In der ersten Zeit seiner künstlerischen Entwicklung war Mantegna noch entschieden von der ursprünglichen Richtung der paduaner Schule beherrscht; von seinen berühmten Fresken in der Eremitani-Kirche zu Padua zeigen die ersten noch vorwiegend eine skulpturartig scharfe und harte Zeichnung realistischer Formen. Bald aber beginnt er sich von der Manier der Schule zu befreien; die Formenhärte verschwindet, ein stetig sich vertiefendes Naturgefühl beginnt die Formen zu beleben, die zugleich unter der Einwirkung des antiken Ideales immer mehr an einfacher Grösse gewinnen. Nirgends ist ein antiker Typus kopirt; aber in der Vereinfachung und wachsenden Klärung der Formen zeigt sich der Einfluss antiken Kunstgeistes in einer Stärke, wie sonst nirgends in der Malerei dieser Epoche. Der Triumphzug Cäsars, der das glänzendste Zeugnis von Mantegnas Begeisterung für das klassische Altertum ist, hat Gestalten von einer Reinheit und Schönheit der Form, in der sie den Idealgestalten der höchsten Blütezeit der italienischen Malerei schon ganz nahe stehen. Goethe hat von Mantegna gesagt: „er strebte nach dem, was man Stil nennt, nach einer allgemeinen Norm der Gestalten . . . Zugleich aber gelingt ihm auch die unmittelbarste und individuellste Natürlichkeit bei Darstellung der mannigfachsten Gestalten und Charaktere . . . Beide Elemente fühlt man in seinen Werken nicht etwa getrennt, sondern verflochten . . . Das Studium der Antike gibt die Gestalt, dann aber die Natur Gewandtheit und letztes Leben.“
Aus Mantegnas reifster Zeit stammt das schöne Gemälde, das die Galerie von seiner Hand besitzt: Maria mit dem Christusknaben und dem kleinen Johannes, zwischen Joseph und der heiligen Elisabeth (s. die Abbildung): ein hervorragend charakteristisches Werk des Meisters, bedeutend durch die Grösse der Formenauffassung und die lebensvolle, besonders in dem weich modellirten Körper des Christuskindes meisterhafte Durchbildung der Formen, bedeutend aber auch und vor allem durch den seelischen Ausdruck der Gestalten. Wie schön ist das edle Antlitz der Madonna mit dem Ausdruck mütterlich liebevollen Empfindens! Von dem ernsten tiefgefurchten Gesicht der greisen Elisabeth kann man sagen, dass in ihm etwas vom Typus der Sibyllen Michelangelos vorweggenommen ist. Die Farbe, die bei Mantegna fast immer nur untergeordnete Bedeutung hat, macht sich auch hier im Gesamteindruck nicht besonders geltend, aber sie spricht hier doch stärker mit, als in vielen ändern Bildern des Meisters.
Jede der verschiedenen Malerschulen hat ihren besondern Familiencharakter; die einzelnen zu einer Schule gehörigen Meister, durch ihre persönliche Eigenart von einander verschieden, haben so bestimmte Charakterzüge mit einander gemein, dass sie zusammen gewissermassen ein Kollektiv-Individuum bilden. Wieder ein solches Familien-Ganze tritt uns in der Malerschule entgegen, die in Ferrara um die Mitte des 15. Jahrhunderts aufkam und bis ins 16. Jahrhundert hinein in Blüte stand. Sie war zunächst von der paduaner Schule, bald auch von den Venezianern beeinflusst, zugleich aber hatte sie von Anfang an einen ganz bestimmt ausgeprägten, selbständigen Charakter.
Drei sehr interessante Gemälde vertreten in der dresdner Galerie die ferraresische Schule der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, Werke von Francesco Cossa und Ercole Roberti. Beide waren neben Cosma Tura die ferraresischen Hauptmeister dieser Epoche. In ihrem Streben nach scharf plastischer Formenzeichnung sind die Einwirkungen des paduaner Stils unverkennbar. Was sie von den Paduanern
Hermann Lücke: Die Königliche Gemäldegalerie zu Dresden. Franz Hanfstaengl, München 1894, Seite 16. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gem%C3%A4ldegalerie_Alte_Meister_(Dresden)_Galeriewerk_L%C3%BCcke.djvu/26&oldid=- (Version vom 26.12.2024)