Zum Inhalt springen

Seite:Gemäldegalerie Alte Meister (Dresden) Galeriewerk Lücke.djvu/30

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.

Meisters ist das im Text wiedergegebene Christusbild: ein Christus ohne Heiligenschein, mit ernstem, fast strengem, geisteshellem Blick, als Prediger und Lehrer dargestellt, mit einem Buch in der Linken; im Hintergrund eine bergige Landschaft. Die Formengebung ist von ausserordentlich klarer Bestimmtheit, die Farbe von venezianischer Wärme. – Das andere im Text abgebildete Gemälde Cimas, der Tempelgang der Maria, ist besonders interessant durch die Szenerie, in der der legendarische Vorgang dargestellt ist. Links im Mittelgrund ein Palast mit stattlicher Säulenhalle im Stil der Frührenaissance, verbunden mit einem Turmbau von noch mittelalterlicher Art; rechts die Tempeltreppe, deren hohe Stufen die kleine Maria mit der brennenden Kerze hinansteigt. Im Hintergrund eine reiche Landschaft, wie sie Cima zu schildern liebte, in dem anmutigen Charakter seiner Heimat, des friauler Landes, die fernen Höhenzüge tiefblau gefärbt. Das orientalische Kostüm, das alle Nebenfiguren tragen, war den Venezianern nichts fremdes, es konnte damals auf den Strassen Venedigs täglich gesehen werden; auch andere venezianische Maler, Gentile Bellini, der sich eine Zeit lang im Orient aufhielt, und Carpaccio, haben das orientalische Kostüm bei neutestamentlichen Darstellungen öfters angewendet. Die beiden Figuren vorn rechts auf den Tempelstufen, ein Knabe und eine Frau, die Früchte, Eier und Vögel feil halten, tragen besonders dazu bei, dass sich das Bild wie die Schilderung eines Vorganges ausnimmt, den der Maler in unmittelbarer Gegenwart vor Augen hatte.

* *
*

Die italienische Frührenaissance, diese Jugend- und Frühlingsepoche der italienischen Kunst, hat ihre besondere Schönheit. Das naiv Anmutige fesselt in ihren Schöpfungen in gleich hohem Maasse, wie der Ausdruck jugendlich herber Kraft. Mit ihrem frischen Natursinn erreichte sie oftmals, in der Plastik noch häufiger als in der Malerei, eine Feinheit der Formenbildung, eine Schärfe im Charakteristischen, die bewundernswert ist. Selbst die Befangenheit, die ihren Schöpfungen noch anhaftet, hat ihren eigenen Reiz. Ihre jugendlich zarte und spröd kräftige Kunst hat Schönheitsmomente, die in der Epoche einer freieren Entwicklung, in der Zeit der vollendeten Reife naturgemäss nicht wiederkehren. Und doch liegt in eben dieser das Ziel, auf das sie in unablässig aufsteigender Bewegung hindrängt. Vom geschichtlichen Standpunkt betrachtet erscheint die Frührenaissance doch eben durchaus als die Vorstufe für jenen glänzenden Höhepunkt, auf den die italienische Kunst am Beginn des Cinquecento gelangte. Mächtige Genien, wie sie nur an den grossen Feiertagen der Menschheitsgeschichte geboren werden, treten ein in den Gang der künstlerischen Entwicklung. Ausgerüstet mit allen technischen Errungenschaften des vorangehenden Jahrhunderts, genährt mit den edelsten Gedanken ihrer Zeit, erschaffen sie aus selbsteigener Kraft ein neues Reich künstlerischer Gestalten, das an Grossartigkeit alles in jener früheren Periode Geschaffene weit überragt. Das Interesse am Einzelnen und Besonderen der realen Erscheinungen, das die Richtung der Frührenaissance so entschieden bestimmt hatte, verliert sich aus der künstlerischen Anschauungsweise; eine grösser angeschaute Natur leuchtet aus allen Schöpfungen dieser neuen Epoche. Die künstlerische Phantasie entfaltet sich in ungeahnter Macht; sie offenbart sich in Werken, die in

Empfohlene Zitierweise:
Hermann Lücke: Die Königliche Gemäldegalerie zu Dresden. Franz Hanfstaengl, München 1894, Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gem%C3%A4ldegalerie_Alte_Meister_(Dresden)_Galeriewerk_L%C3%BCcke.djvu/30&oldid=- (Version vom 26.12.2024)