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Seite:Gemäldegalerie Alte Meister (Dresden) Galeriewerk Lücke.djvu/32

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die Bilder, in denen Maria in mütterlich liebevoller Vereinigung mit ihrem Kinde, bisweilen umgeben von einer reizvollen idyllischen Landschaft, rein menschlich dargestellt ist, nur freilich von unendlich tieferer und zarterer Empfindung beseelt, anmutvoller und in höherer Formenschönheit als in allen Madonnenbildern früherer Zeit. Am herrlichsten ist unter diesen Gemälden, von dem ganzen Zauber raffaelischer Anmut erfüllt, die Madonna della Sedia. Das Höchste im Bereich jener anderen Darstellungen ist die Madonna di San Sisto.

Vasari sagt in der Biographie Raffaels: „Für die schwarzen Mönche (die Benediktiner) von S. Sisto in Piacenza malte er das Bild für den Hauptaltar, darin die Madonna mit dem hl. Sixtus und der hl. Barbara dargestellt ist, ein wahrhaft wunderbares, in seiner Art einziges Werk (cosa veramente rarissima e singolare).“ Die Kirche in Piacenza wurde 864 gestiftet; der hl. Sixtus, dem sie geweiht ist, ist einer der älteren heilig gesprochenen Päpste dieses Namens, wahrscheinlich Sixtus II (257 –259); 1260 fand ein Umbau der Kirche statt, im 16. Jahrhundert, bevor Raffaels Gemälde hier seinen Platz erhielt, wurde der Chorraum erneuert. Über die Entstehungszeit des Bildes, die von Vasari nicht bestimmt angegeben wird, sind neuere Kunstforscher verschiedener Ansicht gewesen. Sicher ist nur, dass das Gemälde nicht früher, als die grossen Tapeten-Kartons, also nicht vor dem Jahre 1515 entstand. Nach seinem ganzen malerischen Charakter gehört es in die letzte Epoche von Raffaels höchster und freiester Stilentwicklung. [1] Ferner ist sicher, dass es eines der wenigen Werke ist, die Raffael in dieser letzten Zeit ganz eigenhändig ausgeführt hat. Durch das Übermaass von Arbeit, das in den letzten Jahren auf ihm lastete, war er bei den meisten Werken genötigt, die Ausführung zum grossen Teile Schülern und Gehilfen zu überlassen. In der sixtinischen Madonna ist jeder Zug von Raffaels eigner Hand. Der Umstand, dass das Bild auf Leinwand gemalt ist, hat zu der seltsamen Meinung Anlass gegeben, es sei ursprünglich bestimmt gewesen, als Prozessionsfahne zu dienen. Auch die geistreichsten Argumente, die vorgebracht worden sind, um diese Ansicht zu stützen, haben durchaus nichts überzeugendes. [2] Das Gemälde war ganz zweifellos, wie Vasari angibt, ein Altarbild. Bis 1754 blieb es in der Kirche zu Piacenza; in diesem Jahre ward es durch Vermittlung des bolognesischen Malers Giovannini für den Preis von 20,000 Dukaten von August III erworben.

Neben jenen Bildern der Madonna, in denen sie rein menschlich aufgefasst ist, war ihre altgeheiligte Darstellung in eigentlichen Kultus- und Andachtsbildern während der ganzen Frührenaissance in Geltung geblieben. Zahlreiche bedeutende Bilder dieser Art waren gegen Ende des 15. Jahrhunderts besonders aus der umbrischen und venezianischen Schule hervorgegangen. Der weltlichen Sphäre entrückt erscheint hier die Madonna bald thronend innerhalb einer feierlichen Architektur, von Engeln und Heiligen umgeben, bald in himmlischer Glorie. Raffael hatte in seiner florentinischen Epoche mehrere thronende Madonnen gemalt, in denen der feierlich strenge Stil der alten Gnadenbilder in neuer Schönheit auflebte: die Madonna Ansidei, die Madonna des Nonnenklosters S. Antonio in Perugia (Madonna del Duca Ripalda), beide der umbrischen Weise noch nahe verwandt, die Madonna del Baldacchino, in deren freierer Gestaltung der Einfluss des Fra Bartolommeo deutlich zu erkennen ist; eine andere Darstellung dieser Gattung, noch grösser im Stil, stammt aus der ersten Hälfte seiner römischen Zeit: die Madonna del Pesce. In der Madonna di Foligno, die mit dieser ungefähr gleichzeitig entstand,


  1. Auf das Unzureichende der Gründe, mit denen man bisher versucht hat, das Entstehungsjahr festzustellen, hat K. Wörmann hingewiesen in einem Aufsatz über Raffaels sixt. Mad. in der Zeitschrift „Die Kunst für Alle“, 1893.
  2. Eine treffende Widerlegung dieser Ansicht findet sich in dem vorher genannten Aufsatz von Wörmann.
Empfohlene Zitierweise:
Hermann Lücke: Die Königliche Gemäldegalerie zu Dresden. Franz Hanfstaengl, München 1894, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gem%C3%A4ldegalerie_Alte_Meister_(Dresden)_Galeriewerk_L%C3%BCcke.djvu/32&oldid=- (Version vom 26.12.2024)