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Seite:Gemäldegalerie Alte Meister (Dresden) Galeriewerk Lücke.djvu/33

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griff Raffael zum ersten Mal auf den Glorientypus zurück. Die Madonna mit dem Kind ist hier als Vision gedacht, sie erscheint auf Wolken schwebend, inmitten eines kreisförmigen, goldigen Glorienlichts. Die Darstellung des Visionären tritt später in verschiedenen Gemälden Raffaels noch bedeutsamer auf, in der heiligen Cäcilie, in der Vision des Ezechiel, in der Transfiguration (dem letzten Werk Raffaels), am bedeutendsten und mächtigsten in der sixtinischen Madonna.

Hettner hebt in seinen italienischen Studien mit besonderem Nachdruck hervor, dass man in diesen Visionsbildern die Einwirkung bestimmter kirchlicher Bestrebungen jener Zeit zu erkennen habe: „Das erhöhte religiöse Leben, wie es seit der Eröffnung des lateranischen Concils in immer weitere Kreise drang, fand in dem Schöpfer der Disputa den lebhaftesten Wiederhall.“ [1] Ob das lateranische Concil (1512–1517), das an Erfolgen nicht eben reich war, zur Erhöhung des religiösen Lebens wesentlich beitrug, mag zweifelhaft sein. Thatsache ist, dass sich um diese Zeit eine ernste religiöse Bewegung in gewissen römischen Kreisen entschieden geltend machte. Ranke sagt in der Geschichte der Päpste: „Eben als es unter Leo X der Ton der Gesellschaft geworden war, das Christentum zu bezweifeln, zu leugnen, erhob sich in geistreicheren Männern, in solchen, welche die Bildung ihrer Zeit besassen, ohne sich an sie verloren zu haben, eine Rückwirkung dagegen.“ „Noch zu Leos Zeiten wird ein Oratorium der göttlichen Liebe erwähnt, das einige ausgezeichnete Männer in Rom zu gemeinschaftlicher Erbauung gestiftet hatten.“ [2] Contarini, Sadoleto, Caraffa und andere namhafte Persönlichkeiten gehörten dazu. Dass Raffael zu dieser religiösen Gemeinschaft bestimmte Beziehungen gehabt habe, wird nirgends berichtet; zweifellos aber stand er zu manchem jener Männer, sicher zu Sadoleto, in einem nahen persönlichen Verhältnis und wohl darf man glauben, dass er von jener neuen geistigen Bewegung nicht unberührt blieb. In den religiösen Bildern seiner letzten Jahre kann man wohl einen Wiederhall des Geistes erkennen, der sich in der Vereinigung jener Männer kundgab. Als Offenbarung von Raffaels eigenstem Wesen ist keines dieser Werke bedeutender und mächtiger, als die Sistina; in keinem erscheint die Genialität, mit der die religiöse Vorstellung erfasst und künstlerisch gestaltet ist, grösser und überwältigender.

Als überirdische Erscheinung schwebt die Madonna mit dem Kind, von leichten Wolken getragen, die ihre Füsse kaum berühren, aus dem Glanz des Himmelsraumes hervor; aus dem Innern des hellgoldigen Lichts, das sie umgiebt, tauchen Engelsköpfchen wie zarte verschwimmende Duftgebilde auf, andere in bestimmteren Formen an den Grenzen des Lichtscheins, wo das klare Blau des Himmels hervortritt. Zu den Seiten der Madonna, auf dem Gewölk, das sich zu ihren Füssen ausbreitet, schweben in halb knieender Stellung die Gestalten des heiligen Sixtus und der heiligen Barbara. Aus der Schaar der Engel erscheinen zwei ganz vorn, auf die Brüstung gelehnt, die das Gemälde unten abschliesst. Oben zeigt das Bild einen nach beiden Seiten zurückgeschlagenen Vorhang, der ebenso wie die Brüstung wohl am richtigsten als zugehörig zu dem Altar zu denken ist, für den das Gemälde bestimmt war [3]. Von unmittelbarer Wirkung ist die einfache Symbolik des geöffneten Vorhangs: ein bisher verhülltes Geheimniss ist den Augen plötzlich erschlossen.

Ausser der Sistina ist die Madonna di Foligno das einzige Gemälde Raffaels, das Maria mit dem Kind in der Glorie, als visionäre Erscheinung schildert. Wie gross ist die Verschiedenheit der Conception! Man kann sagen, in dem Bild von Foligno ist die Madonna und ihr Verhältniss zu dem


  1. Hettner, italienische Studien, S. 234.
  2. Ranke, die römischen Päpste in den letzten vier Jahrhunderten, I, S. 88.
  3. S. Wörmann, a. a. O.
Empfohlene Zitierweise:
Hermann Lücke: Die Königliche Gemäldegalerie zu Dresden. Franz Hanfstaengl, München 1894, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gem%C3%A4ldegalerie_Alte_Meister_(Dresden)_Galeriewerk_L%C3%BCcke.djvu/33&oldid=- (Version vom 26.12.2024)