Der Maler, dem das Bild unter die Hände kam, änderte es nach seinem eigenen Geschmack oder nach dem des damaligen Besitzers; das Bild erschien offenbar nicht gefällig genug; die Madonna und das Kind erhielten einen stark lächelnden Ausdruck, besonders in dem ernsten Gesicht des Kindes wurden die Mundwinkel stark in die Höhe gezogen.
Was wir von der Geschichte der beiden Bilder wissen, ist so unzulänglich und unklar, dass es für die Beantwortung der Echtheitsfrage keinen irgendwie sichern Anhalt geben konnte. Nur aus Gründen der Stilkritik kam man zu der Überzeugung, dass das dresdner Bild von einem niederländischen Meister des 17. Jahrhunderts gemalt ist. Es entstand ohne Zweifel in Amsterdam. Das holbeinsche Original wurde im Jahre 1632 von einem amsterdamer Maler oder Kunsthändler Le Blon von den Erben Jakob Meyers angekauft. Der Bericht, aus dem wir das erfahren, befindet sich in einem um die Mitte des 17. Jahrhunderts verfassten Manuskript von Remigius Fesch in der baseler Bibliothek; er enthält noch die Notiz, dass Le Blon das Bild an Maria von Medici während ihres Aufenthaltes in Belgien verkaufte. (Sie flüchtete 1631 aus Frankreich nach Brüssel.) Dieser Notiz steht eine andere bei Sandrart in der Biographie Holbeins gegenüber, aus der sich ergiebt, dass Le Blon ein gleiches Madonnenbild längere Zeit vor 1645 an den Buchhalter Lössert in Amsterdam verkaufte. Fesch sowohl wie Sandrart wissen ausser dem Bilde, über das sie als Originalwerk Holbeins berichten, von keinem zweiten Exemplar; offenbar jedoch beziehen sich ihre Notizen nicht auf dasselbe Gemälde. Das Bild hatte sich in Amsterdam verdoppelt. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte Le Blon selbst eine Kopie in der Absicht anfertigen lassen, sie als Originalarbeit Holbeins in den Handel zu bringen. Welches aber von den an Maria von Medici und Lössert verkauften Bildern war das Original? Hätte sich das an Lössert verkaufte als das Original nachweisen lassen, so wäre das für die Frage nach der Echtheit des jetzt in Darmstadt befindlichen Bildes nicht ohne Bedeutung gewesen. Denn aus mehr als einem Grunde ist sehr wahrscheinlich, dass das im Besitz Lösserts in Amsterdam gebliebene Bild dasselbe Exemplar war, von dem wir wissen, dass es in Amsterdam 1709 mit der cromhoutschen Sammlung versteigert wurde; mit diesem aber ist das darmstädter sicher identisch, da der Rahmen des darmstädter Bildes das cromhoutsche Wappen hat. (1822 erwarb es der Prinz Wilhelm von Preussen von dem pariser Kunsthändler Delahante, dessen Schwager Spontini es nach Berlin gebracht hatte; nach dem Tode des Prinzen erbte es seine Tochter, die Prinzessin Elisabeth, Gemahlin des Prinzen Karl von Hessen.)
Das dresdner Exemplar befand sich 1743 im Besitz eines Herrn Zuan Delfino in Venedig. Von wo und von wem es in dessen Besitz gelangt war, ist ungewiss. Durch den Grafen Algarotti ward es in dem genannten Jahre für die dresdner Galerie erworben.
Unter den so glänzend wieder ans Licht gekommenen Vorzügen des darmstädter Gemäldes müssen vor allen die der Porträtköpfe, besonders der weiblichen, ins Auge fallen; an Schärfe und Feinheit der Formen sind sie denen des dresdner Bildes weit überlegen. Die Gestalt des Bürgermeisters hat hier nicht denselben schlichten Ausdruck tiefer hingegebener Andacht, wie in dem darmstädter Bild; in der mehr aufgerichteten Haltung – die gefalteten Hände sind mehr erhoben, so dass sie nicht, wie dort, auf den Schultern des knieenden Sohnes aufruhn –, in dem ganzen Ausdruck, der
Hermann Lücke: Die Königliche Gemäldegalerie zu Dresden. Franz Hanfstaengl, München 1894, Seite 64. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gem%C3%A4ldegalerie_Alte_Meister_(Dresden)_Galeriewerk_L%C3%BCcke.djvu/74&oldid=- (Version vom 27.12.2024)