lebhafter erscheinen sollte, hat diese Gestalt an ernster Innigkeit verloren. Aber das Madonnenantlitz des dresdner Bildes! Wie bewunderungswürdig nahe steht es der Schönheit des Originals! Niemals in der That hat die Hand eines Kopisten eine feiner empfundene Nachbildung geschaffen. In allen den individuellen Feinheiten, die in dem Madonnenkopf des darmstädter Bildes nach der Entfernung der plumpen Übermalungen hervortraten, in der zarten Zeichnung der Augenbrauen, der Nase, des Mundes und des anmutigen Doppelkinns, in dem allen stimmt mit ihm der dresdner Madonnenkopf durchaus überein. Und wie bewundernswert ist die Uebereinstimmung auch in dem tief seelenvollen Ausdruck der beiden Madonnen.
In Wahrheit ein merkwürdiger Fall: als das darmstädter Bild in dem übermalten Zustand weiteren Kreisen bekannt wurde, musste man sich sagen, das ist das Original, zugleich aber, nur in der Kopie sind die Züge der ursprünglichen Schönheit der Hauptfigur erhalten. Hinsichtlich dieser Gestalt war Holbein in der Kopie sich selbst erstaunlich ähnlicher, als im Original. Die Bewunderung dieser Madonna als einer der edelsten und herrlichsten Gestalten deutscher Kunst blieb dieselbe. Woltmann sagte damals, obwohl er die Echtheit des darmstädter Bildes sofort mit Entschiedenheit vertrat, von der dresdner Kopie, dass nur sie eine Ahnung von Holbeins Madonnenkopf gebe: „hier erscheint er uns völlig individuell und zugleich als die höchste Verklärung deutscher Weiblichkeit, wie sie sich jedem deutschen Herzen eingeprägt hat, ganz Licht und Klarheit, mit den reizend gesenkten Lidern, voll unaussprechlicher Milde und Holdseligkeit.“[1] Und auch dann, als man das Original in seinem ursprünglichen Zustande kennen lernte, konnte sich die Bewunderung der Madonna in der dresdner Kopie nicht verringern. Den angeführten Worten fügte Woltmann die Bemerkung hinzu: „allerdings spielt hier (bei dem dresdner Bilde) wohl schon eine leise Modernisierung hinein, auf die schon Kugler in seiner Beurteilung des Bildes hinwies. Bei dem Original, soweit noch Spuren des ehemaligen unter den Entstellungen hindurchschimmern, scheint sich der Anmut mehr Hoheit gesellt zu haben.“ Vielleicht findet man, dass die Wiederherstellung des Originals dieser Vermutung Recht giebt. Aber von welch’ adeliger Anmut ist das Madonnenantlitz auch in dem dresdner Schwesterbild!
Man bezeichnet die holbeinsche Madonna gern als das deutsche Gegenstück zu Raffaels Sistina. Sie erscheint nicht in so unnahbarer Erhabenheit wie jene, sie tritt uns vertraulich entgegen inmitten der innigen Vereinigung einer deutschen Familie, sie steht uns ganz menschlich nahe und ist doch auch von einer göttlichen Schönheit verklärt. Die Krone ist kein bedeutungsloses Symbol auf der reinen, wunderbar klaren Stirn dieser Madonna, in deren echt mütterlicher Gestalt das deutsche Frauenideal eine so vollendete Verkörperung gefunden hat.
Wenn man sagt, das dresdner Gemälde zeige eine gewisse Modernisierung des Originals, so meint man hauptsächlich die schlankere Bildung der Madonnengestalt und die Änderungen im architektonischen Hintergrund. Namentlich in der Gestaltung der architektonischen Verhältnisse bekundet sich ein mehr moderner, vom Raumgefühl der Renaissance stärker beeinflusster Geschmack. Die Muschelwölbung der Nische über dem Haupt der Madonna und die Konsolen der Seitenpilaster über den Köpfen der Knieenden sind höher hinaufgerückt, so dass die Gestalten freier aus dem Hintergrund
- ↑ Woltmann, Holbein und seine Zeit. 2. Aufl. S. 308.
Hermann Lücke: Die Königliche Gemäldegalerie zu Dresden. Franz Hanfstaengl, München 1894, Seite 65. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gem%C3%A4ldegalerie_Alte_Meister_(Dresden)_Galeriewerk_L%C3%BCcke.djvu/75&oldid=- (Version vom 27.12.2024)