heraustreten. Der Gesamteindruck der Komposition ist dadurch für die meisten ohne Zweifel ein günstigerer. Doch ist nicht zu verkennen, dass die Raumverhältnisse im Originalbild ihre eigentümlichen Vorzüge haben. Die Figurengruppe erscheint hier in der architektonischen Umrahmung fester zusammengeschlossen; man kann sagen, der Eindruck des Innigen in der Komposition der Figuren wird durch die sich enger anschliessenden architektonischen Linien erhöht.
Wer war der Maler des dresdner Bildes? Bis jetzt ist diese Frage noch unbeantwortet. Es giebt künstlerische Talente, die für selbständige Schöpfungen nicht kräftig genug begabt sind, denen nur in der Anempfindung an fremde Vorbilder, in ihrer Nachahmung bedeutende Leistungen gelingen. Ein solches Talent war vielleicht der Maler der dresdner Madonna. Nicht lange nach Vollendung seines Madonnenbildes verliess Holbein Basel, wo die reformatorische Bewegung immer mehr einen fanatisch revolutionären Charakter angenommen und Zustände herbeigeführt hatte, in denen für künstlerische Thätigkeit wenig Raum blieb. „Hier frieren die Künste“, schrieb Erasmus am 29. August 1526
in einem Brief an seinen Freund Peter Ägidius in Antwerpen, „er (Holbein) geht nach England, um ein paar Engel (Goldmünze von 10 Schillingen) zusammenzuscharren“. Nach zwei Jahren kam Holbein zwar nach Basel zurück, fand hier auch Beschäftigung, er beendigte damals die später zugrunde gegangenen Wandmalereien im baseler Rathaus, aber schon 1532, da die Verhältnisse in Basel nicht besser wurden, begab er sich wieder nach England, gelockt von der sichern Aussicht auf ein reiches und lohnendes Schaffen. So ging Deutschland damals – Dürer war vier Jahre vorher gestorben –seines grössten Künstlers verlustig. In London, wo Holbein, einen nochmaligen ganz kurzen Aufenthalt in Basel abgerechnet, bis zu seinem Tode blieb, war er beinahe ausschliesslich als Porträtmaler thätig.
Zu den bewunderungswürdigsten Bildnissen von Holbeins Hand, zu denen, an die man zuerst denkt, wenn von seiner Porträtkunst die Rede ist, gehört das Bildnis Morettes in der dresdner Galerie. Es stammt aus der Zeit seines letzten Aufenthalts in England und zeigt ihn in der ganzen Grösse seiner Meisterschaft. Von allen grossen Porträtmalern hat keiner in seinen Schilderungen den Eindruck reiner Objektivität in höherem Grade erreicht als Holbein. In der langen Reihe seiner Bildnisse findet man schwerlich auch nur die leiseste Spur einer habituellen, subjektiv gefärbten Auffassungsweise; wie aus einem wunderbar klaren, krystallhellen Spiegel treten uns die dargestellten Persönlichkeiten entgegen, und immer sind wir sofort überzeugt, das vollste Bild ihres Wesens vor uns zu haben. Immer ist in diesen Gestalten mit eindringlichster Kraft der Charakter in seiner Ganzheit, nicht in einer blos einseitigen
Hermann Lücke: Die Königliche Gemäldegalerie zu Dresden. Franz Hanfstaengl, München 1894, Seite 66. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gem%C3%A4ldegalerie_Alte_Meister_(Dresden)_Galeriewerk_L%C3%BCcke.djvu/76&oldid=- (Version vom 27.12.2024)