Das Schicksal des Bildes ist denkwürdig genug: in Italien fand es so hohe Bewunderung, dass es Leonardo zugeschrieben werden konnte; in Deutschland konnte es ein Jahrhundert lang den italienischen Namen unbestritten behalten, so wenig war man damals in Deutschland mit der Kunst des grossen deutschen Meisters bekannt.
Der vornehme Herr, den das Bild in lebensgrosser Halbfigur darstellt, steht vor uns in voller Vorderansicht, in einem durchgehends schwarzfarbigen Kostüm von gediegenster Eleganz, in ruhiger, fester, selbstbewusster Haltung, den Blick geradaus gerichtet, die mit dem Handschuh bekleidete linke Hand leicht in das Dolchgehenk stützend. Mit staunenswerter Feinheit ist alles einzelne behandelt, in seiner stofflichen Beschaffenheit aufs meisterhafteste charakterisiert: die schwarze Stickerei auf dem Bruststück und den geschlitzen Ärmeln des Atlaswamses, die Pelzverbrämung des Mantels, die goldene Halskette, die reichverzierte Dolchscheide, die Edelsteine am Barett. Nichts aber von all diesen kostbaren Einzelheiten macht sich aufdringlich geltend; das Herrschende in der ganzen Erscheinung ist der ernste energische Kopf, der sich mit seinem hellen Fleischton und dem rötlichblonden, schon angegrauten Bart aus der dunkelfarbigen Umgebung, von dem tiefen Grün des Vorhangs im Hintergrund und von dem Schwarz der Kleidung aufs wirkungsvollste abhebt. Nächst dem Kopf wirkt am entschiedensten die ganz individuelle, wundervoll gemalte rechte Hand. Das koloristische Ganze mit seinen so einfachen, aber aufs feinste abgestuften Tönen ist von vollendet harmonischer Haltung. Eine Erhöhung der realistischen Illusion erreichte die Malerei erst in einer späteren Entwicklungsepoche, hauptsächlich durch die vollkommene Ausbildung der Luftperspektive. Durch scharfe Beobachtung der Luftwirkungen, der die Figuren umgebenden Atmosphäre wurde der Eindruck des Räumlichen und Körperhaften in der bildlichen Erscheinung noch bedeutend gesteigert. Was die Spanier „ambiente“ nennen, das fehlt noch in den holbeinschen Bildnissen.
Ein anderes Originalwerk des Meisters in der dresdner Galerie ist das vortreffliche Doppelporträt des Mr. Thomas Godsalve und seines Sohnes John (s. d. Abb.). Die beiden sind, wie Woltmann bemerkt, wahre Typen englischer Land-Gentlemen; der Sohn hat einen eigentümlich ernsten Ausdruck; man kennt von ihm aus seinen späteren Jahren die Kundgebung einer streng protestantischen Gesinnung.[1] Das Bild entstand, wie die Inschrift besagt, im Jahre 1528, also in der Zeit von Holbeins erstem Aufenthalt in England.
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- ↑ Woltmann, a. a. O. S. 345.
Hermann Lücke: Die Königliche Gemäldegalerie zu Dresden. Franz Hanfstaengl, München 1894, Seite 68. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gem%C3%A4ldegalerie_Alte_Meister_(Dresden)_Galeriewerk_L%C3%BCcke.djvu/78&oldid=- (Version vom 27.12.2024)