In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts treten in der deutschen Malerei noch nirgends Anzeichen auf von einer die nationale Eigenart schädigenden Wirkung italienischer Einflüsse. Was sich hier von solchen Einwirkungen zeigt, versehrt noch in nichts die künstlerische Selbständigkeit. Anders verhält es sich mit der niederländischen Malerei, die schon in dieser Zeit durch das Eindringen des italienischen Stils in ihrem nationalen Charakter bedroht wird. Zwar stehn in den Niederlanden so bedeutende Meister wie Quinten Massys (in Antwerpen) und Lucas van Leyden während der ersten Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts noch ganz innerhalb der heimischen Kunstrichtung, auch in dem, was in ihrer Kunst neu ist. Aber schon bei ihren Zeitgenossen Jan Gossaert (Mabuse), Bernaert van Orley und Jan Scorel kündigt sich in der späteren Epoche ihrer künstlerischen Thätigkeit sehr entschieden eine Stiländerung unter italienischer Einwirkung an.
Quinten Massys, dessen religiöse Bilder das bedeutendste sind, was die niederländische Malerei des 16. Jahrhunderts hervorgebracht hat, ist als Porträtmaler und namentlich als Maler sittenbildlicher Darstellungen noch von besonderem Interesse.
In seinen Sittenbildern, in denen er hauptsächlich Szenen aus dem antwerpner Geschäftsleben, Kaufleute mit ihren Frauen beim Goldwägen und Geldzählen in grossen Halbfiguren schilderte, hat er die Ansätze zu einer selbständigen Genrekunst, die sich in der niederländischen Malerei schon seit Jan van Eyck gezeigt hatten, in epochemachender Weise weiterentwickelt. Seine unmittelbaren Nachahmer in dieser von ihm geschaffenen Bildergattung waren sein Sohn Jan und ein aus Holland, von einer der Inseln Seeland[ER 1] gebürtiger Maler, Marinus van Roymerswale. Von den Arbeiten beider haben späterhin viele als Originalwerke des Quinten Massys gegolten; seltsamerweise galt als ein solches längere Zeit auch das mit dem Namen des Marinus deutlich genug bezeichnete Gemälde der dresdner Galerie (s. d. Abb.): ein Kaufmann mit seiner jungen Gattin in der Geschäftsstube, vor einem Tisch, auf dem der Ertrag eines schönen Geschäfts, ein Haufen glänzender Goldstücke liegt; der Mann, an dem die sonderbar geschweifte und verbrämte Kopfbedeckung auffällt, legt mit bedächtiger Miene eines der Goldstücke auf die Wagschale; die junge Frau, deren hübsches und zartes Gesicht sich neben dem scharfgeschnittenen ihres Gatten doppelt anmutig ausnimmt, sieht ihm mit einem nachdenklichen Blick, der zu sagen scheint : „am Golde hängt doch alles!“ aufmerksam zu. Die Schilderung dieser behaglichen Szene ist bis in alle Einzelheiten mit grosser behaglicher Sorgfalt durchgeführt. Ihr Vorbild ist das eine ähnliche Szene schildernde Gemälde, das die Louvresammlung von Quinten Massys besitzt. Marinus hat die Darstellung, die jedenfalls grossen Beifall fand, mehrfach gemalt; ein Exemplar vom Jahre 1538 befindet sich in der münchner Pinakothek,
Errata
- ↑ Auf S. 60 muss es statt: „von der Insel Seeland“ heissen: „von einer der Inseln Seeland“.
Hermann Lücke: Die Königliche Gemäldegalerie zu Dresden. Franz Hanfstaengl, München 1894, Seite 69. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gem%C3%A4ldegalerie_Alte_Meister_(Dresden)_Galeriewerk_L%C3%BCcke.djvu/79&oldid=- (Version vom 27.12.2024)