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Seite:Gemäldegalerie Alte Meister (Dresden) Galeriewerk Lücke.djvu/89

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Erst nach der Rückkehr in die Heimat fand Rubens ganz sich selbst. Jetzt erst, inmitten der Welt, in der er aufgewachsen war, zu der er gehörte, vermochte sich seine künstlerische Natur ganz frei in ihrer vollen Kraft und Eigentümlichkeit zu entfalten. Sein grossartiger Naturalismus kommt erst jetzt zur vollen Reife, in echt vlämischen, von Realität strotzenden und zugleich ins Typische gehobenen Gestalten; die Farbe gewinnt immer mehr an vollsaftigem Leben, an Kraft und Glut. Dieses vollkommne künstlerische Selbständigwerden zeigt sich besonders in einer Reihe kühn dramatischer Kompositionen aus dem ersten Jahrzehnt nach Rubens’ Rückkehr aus Italien, in der gewaltigen Amazonenschlacht der münchner Pinakothek, die schon in der Zeit von 1610–1612 entstand und in machtvollen Schilderungen leidenschaftlich bewegter Jagdszenen.

Die dresdner Galerie besitzt zwei solcher Jagdbilder, eine Löwen- und eine Eberjagd. (S. d. Abbildungen.) Die erstere, unter den rubensschen Darstellungen desselben Gegenstandes nächst der der münchner Pinakothek die berühmteste, entstand um 1618. Schon damals waren in Rubens’ Werkstatt in Antwerpen Schüler und Gehilfen, die sich in grosser Zahl um ihn versammelten, vielfach bei der Ausführung seiner Werke beteiligt. Die Masse von Aufträgen, die er zu bewältigen hatte, machte eine solche Beteiligung nötig; häufig gab er den nach seinen Entwürfen ausgeführten Gemälden nur die letzten „Retuschen“, durch die er solchen Bildern nicht selten in staunenswerter Weise den vollen Stempel seiner Individualität aufzuprägen wusste. Was und wie viel von Gehilfen ausgeführt war, pflegte er beim Verkauf der Gemälde (z. B. in dem bekannten Schreiben an den Lord Carleton, den englischen Gesandten in Haag) ausdrücklich zu bemerken. Die dresdner Löwenjagd ist wahrscheinlich vollständig von Schülerhänden gemalt und von Rubens wahrscheinlich nicht retuschiert. Die Farbe hat jedenfalls nicht die vollen Accente des Meisters. Aber die Komposition ist ganz von rubensscher Kraft und rubensschem Feuer erfüllt. Die Wut des Angriffs in dem mächtigen Löwen, der in der Mitte des Bildes den Reiter und das sich hoch aufbäumende Ross mit rasendem Sprunge von hinten gepackt hat, das Heranstürmen der beiden Reiter rechts, die dem Genossen in diesem Augenblick der äussersten Gefahr zu Hilfe kommen, auf die Löwin nicht achtend, die neben ihnen mitten im Kampfgetümmel ihr Junges zu retten sucht, links der vierte Reiter, auf dem wild nach hinten ausschlagenden Pferd rückwärts gewendet, die Lanze gegen den Löwen zückend, der zähnefletschend den grimmigen Kopf nach ihm aufrichtet, eben im Begriff, seine Beute, den zu Boden gerissenen Mann loszulassen und sich auf den Gegner zu stürzen – das alles ist voll des mächtigsten Lebens, der Ausdruck elementarer Leidenschaft in den königlichen Bestien von gleicher Gewalt, wie der Ausdruck heroischer Kühnheit in den Gestalten der Jäger.

Die Eberjagd ist völlig von Rubens’ Hand. Sie ist fast ganz alla prima gemalt, mit bewunderungswürdiger Bravour, stellenweise beinahe skizzenhaft. Eine grossartige Waldlandschaft bildet den Schauplatz des stürmischen Vorgangs; über den quer am Boden liegenden Baumriesen rast der Eber vorwärts den Spiessen der vier Jagdknechte entgegen, über ihn hingestürzt, in ihn festgebissen, an ihm aufspringend eine Meute von Hunden; von hinten her werfen sich ihm zwei Reiter in die Flanke, zwei andere jagen im Vordergrunde heran – eine lebensprühende Schilderung, die wie in einem Zuge gleich im ersten Feuer der Conception hingeschrieben erscheint. Auch in dem landschaftlichen Teile

Empfohlene Zitierweise:
Hermann Lücke: Die Königliche Gemäldegalerie zu Dresden. Franz Hanfstaengl, München 1894, Seite 79. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gem%C3%A4ldegalerie_Alte_Meister_(Dresden)_Galeriewerk_L%C3%BCcke.djvu/89&oldid=- (Version vom 27.12.2024)