gehört das Bild zu Rubens’ vorzüglichsten Werken. Es entstand vermutlich einige Jahre vor der dresdner Löwenjagd, nach Rooses (a. a. O. IV, 345) in der Zeit zwischen 1612 und 1615.
Unter den mythologischen Bildern des Meisters gebührt vielleicht der erste Platz den berühmten Schilderungen des Paris-Urteils, jenes klassischen Schiedsgerichts über Frauenschönheit, das schon im griechischen Altertum zu den Lieblingsgegenständen der Malerei gehörte. Die beiden vorzüglichsten, im madrider Museum und in der Nationalgalerie in London befindlichen, von Rubens ganz eigenhändig ausgeführten Darstellungen der idyllischen Szene stammen aus der letzten, in rein malerischer Hinsicht glänzendsten Periode seines Schaffens (1630–1640); in diesen Bildern und in andern derselben Epoche ist in der Gesättigtheit und Leuchtkraft, in der Wärme, in dem Schmelz der Farbe ein Höchstes erreicht. Mit dem londoner Paris-Urteil stimmt das in kleineren Maassen gehaltne der dresdner Galerie (s. d. Abb. im Text) in der Komposition im wesentlichen überein; die Gruppe des Paris und Merkur ist etwas anders angeordnet als dort; ein Amor und die drei in dem Geäst des Baumes versteckten Satyrn fehlen in dem londoner Bild. Sicher jedoch ist das dresdner Exemplar nicht durchweg ein Werk von Rubens’ eigner Hand, sondern ein von ihm überarbeitetes, sehr sorgfältig überarbeitetes „Werkstattbild“ (vergl. Rooses, III, 142–143, Woermanns Katalog der dr. Gal., 2. Aufl., S. 322), und für ebenso gewiss kann gelten, dass das Bild früher als das londoner und das madrider Paris-Urteil entstand; nach seinem farbigen Gesammtcharakter gehört es nicht in jene letzte Periode des Meisters; Rooses setzt es in die Zeit um 1625. In seiner Art ist es ein sehr vortreffliches Werk, farbig reizvoll besonders in den hell schimmernden Gestalten der drei Göttinnen, die Rubens offenbar am reichlichsten und sorgfältigsten retuschiert hat.
Diese Göttinnen sind von echt niederländischem Geschlecht; sie haben durchaus nichts vom Adel griechischer Formen, aber in ihrer naturfrischen, üppig blühenden Gesundheit sind sie der Antike dennoch verwandt. Eine heiter idyllische Stimmung liegt über der ganzen Szene. Zur rechten Merkur, der die Göttinnen lächelnd heranwinkt, neben ihm in bequemer sitzender Stellung der jugendliche, kräftige Hirt Paris, mit Wohlgefallen auf die zwischen Minerva und Juno hervortretende Venus blickend, der er den Siegespreis der Schönheit, den Apfel, den er noch in der Hand hält, zuerkennen wird. Kleine Liebesgötter sind munter beschäftigt, die Göttinnen ihrer Hüllen völlig zu entkleiden. Eris, die oben, von einem Gewölk halb verschleiert mit der brennenden Fackel erscheint, deutet auf die verhängnisvollen Folgen des Urteilsspruchs. – Von dem Vorhandensein eines von Rubens ganz eigenhändig ausgeführten, diesem dresdner Bild in der Komposition vollkommen entsprechenden Gemäldes ist nichts bekannt.
Ein Originalwerk des Meisters aus seiner letzten Periode, aus der Zeit um 1639, ist „Argus und Merkur“. (S. d. Abb.) Merkur hat den Argus, den Wächter der Io, der von Juno in eine weisse Kuh verwandelten Geliebten Jupiters, mit seinem Flötenspiel eingeschläfert, er greift eben nach dem Schwert, um den Riesen zu
Hermann Lücke: Die Königliche Gemäldegalerie zu Dresden. Franz Hanfstaengl, München 1894, Seite 80. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gem%C3%A4ldegalerie_Alte_Meister_(Dresden)_Galeriewerk_L%C3%BCcke.djvu/90&oldid=- (Version vom 27.12.2024)