des holländischen Volkes mit neuer Kraft erwachsen war, spricht aus diesem Realismus, das Gefühl von dem Werte des neuen selbständigen Daseins, das sich die Holländer in so schweren Kämpfen geschaffen, die Liebe zu der heimatlichen Erde, deren freien Besitz sie mit so gewaltiger Anstrengung errungen hatten. Natur und Leben der Heimat immer von neuem zu schildern, wurden die holländischen Maler nicht müde; aus dieser kleinen heimatlichen Welt wussten sie immer von neuem künstlerische Motive zu gewinnen. Alle derartigen Schilderungen könnte man mit Fromentin[1] als Porträts bezeichnen: neben dem Porträt im besonderen Sinne die sittenbildlichen genreartigen Darstellungen als das Porträt des holländischen Volkslebens in allen seinen Kreisen und Klassen, die Landschaften als das Porträt der holländischen Natur. Das Wort Porträt, meint Fromentin, sage hier alles; in der That, in der holländischen Malerei ist Holland abgebildet, höchst charakteristisch und vollständig, zugleich aber: wie verschiedenartig, wie individuell erscheint bei den Hauptmeistern dieser Malerei die Auffassung des „Porträts“. Jeder dieser geschwornen Realisten hat seine besondre Art, die Dinge zu betrachten; bei dem einen fesselt uns die humoristische, die geistreich launige oder gemütliche Weise der Schilderung, bei dem andern die tief gemütvolle, poetische Auffassung.
Dabei offenbart sich in dieser neuen holländischen Kunst durchweg eine wesentlich neue malerische Empfindung; in einer neuen, von der Art der grossen italienischen Koloristen vollkommen verschiednen Art haben die Holländer das spezifisch Malerische zu einer höchsten Ausbildung gebracht, sie gehören zu den grössten Entdeckern im Bereich der Farbe. Rubens ist als Kolorist am entschiedensten in den Werken seiner letzten Epoche – Tizian und Paolo Veronese verwandt; wie diese lässt er die Farben in gesättigtster Fülle und ungebrochenster Kraft am liebsten in einem vollen, glänzenden, allverbreiteten Lichte wirken; er steigert die Kraft der Lokaltöne; mit der Grösse seines Formenstils, mit der Mächtigkeit seiner Formensprache steht das glanzvolle „Brio“ der Farben in innerem Einklang. Für den vorwaltenden Charakter der neuen holländischen Malerei ist der Ton im prägnanten Sinn, der die Lokalfarben beherrschende Ton und die eigenartige Ausbildung des Helldunkels das eigentlich Bezeichnende. Ton und Helldunkel bekamen hier eine neue Bedeutung. Bei keinem der italienischen Koloristen, weder bei Giorgione, noch bei Palma, war der Ton zu solcher Herrschaft gelangt, von keinem ist er in demselben Sinne ausgebildet worden, wie in der holländischen Schule. Das Helldunkel Correggios ist etwas anderes, als das Helldunkel Rembrandts.
In der Tonmalerei erreichte der malerische Realismus der Niederländer seine höchste Verfeinerung. Von den niederländischen Meistern des 15. Jahrhunderts waren die verschiedenartigen Wirkungen des Lichts und der Luft, die die farbige Erscheinung der Dinge im wirklichen Raume bestimmen, nur erst wenig beobachtet worden; sie hatten mit einer gewissen Naivetät und im Wohlgefallen an reichem Kolorit, solche die Farbe temperierende Wirkungen mehr oder weniger unbeachtet gelassen; die meisten schilderten die Dinge eigentlich nicht, wie sie im Naturzusammenhang, in dem alles umfliessenden, alles verbindenden Licht- und Luftelement erscheinen, sondern jedes für sich in der besonderen Eigentümlichkeit der Lokalfarben. Auf der feinen Beobachtung der Luft- und Lichtwirkungen, auf einer Verschärfung des realistischen Sinnes beruhte die Tonmalerei der holländischen
- ↑ Fromentin, Les maîtres d’autrefois, p. 173.
Hermann Lücke: Die Königliche Gemäldegalerie zu Dresden. Franz Hanfstaengl, München 1894, Seite 88. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gem%C3%A4ldegalerie_Alte_Meister_(Dresden)_Galeriewerk_L%C3%BCcke.djvu/98&oldid=- (Version vom 27.12.2024)