Meister zunächst. Von ihrem geschärften und verfeinerten Auge ward die malerische Eigentümlichkeit der umgebenden holländischen Welt erst jetzt völlig empfunden. Sie sahen da nicht eine landschaftliche Natur, wie sie der Süden in scharfer Formenbestimmtheit, in der Farbenhelligkeit einer durchsichtig glänzenden Atmosphäre zeigt; sie gewahrten, wie in dem vorherrschenden, am häufigsten wiederkehrenden Zustand der holländischen Natur, unter dem Einfluss eines dunstreichen Himmels, unter der verschleiernden Wirkung der feuchten Luft, Linien und Farben in einander verfliessen, wie das Licht, in solcher Atmosphäre verschiedenartig getönt, die Lokalfarben bald in einen warmen goldigen Schimmer, bald in ein feines Silbergrau einhüllt; das Verklingen der Farben in einen Gesammtton, das Verschweben der Formenumrisse gewahrten sie hier als besonders charakteristische Erscheinungen. In den Heimstätten des nordischen Lebens, in den engen Gemächern der Wohnhäuser entdeckten sie die mannigfachen Wirkungen des geschlossenen Lichts, das Weben des Lichts in der Dämmerung, die leisen Farbenspiele im Helldunkel.
Mit diesem verfeinerten malerischen Blick waren aber die holländischen Meister in einem weiten Kreis ihrer Darstellungen nicht blos vollendete Realisten, sondern zugleich auch echte Poeten, Poeten in der Sprache der Farbe. Farbenton und Helldunkel wurden in ihren bedeutendsten Werken zum sprechenden Ausdruck einer eigenartigen poetischen Stimmung. Auf dem landschaftlichen Gebiet, wie im Genre, sind sie die eigentlichen Schöpfer des Stimmungsbildes der nordischen Malerei. Bei
Hermann Lücke: Die Königliche Gemäldegalerie zu Dresden. Franz Hanfstaengl, München 1894, Seite 89. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gem%C3%A4ldegalerie_Alte_Meister_(Dresden)_Galeriewerk_L%C3%BCcke.djvu/99&oldid=- (Version vom 27.12.2024)