Siebenundzwanzigstes Kapitel.
Drei Tage nach dem Abgange des Briefes nach der Insel Bourbon hatte Raymon den Brief und die Absicht, in welcher er ihr geschrieben, völlig vergessen. Er fühlte sich wohler und hatte einen Besuch in seiner Nachbarschaft gewagt. Das Landgut Lagny, welches Herr Delmare seinen Gläubigern an Zahlungs Statt überlassen hatte, war in Besitz eines reichen Fabrikanten, namens Hubert, übergegangen. Raymon fand den neuen Eigentümer bereits in diesem Hause eingerichtet, das ihn an so manches erinnerte. Anfangs überließ er sich seinen Empfindungen, indem er den Garten durchstreifte, der die Spur von Nouns leichten Schritten noch im seinen Sande zu bewahren schien, und indem er die Gemächer durchschritt, in denen er noch den Ton von Indianas sanfter Stimme zu hören glaubte; aber eine neue Bewohnerin dieser ihm so vertraulichen Räume gab seinen Gedanken eine andere Richtung.
In dem großen Salon, an der Stelle, wo Frau Delmare gewöhnlich zu arbeiten pflegte, saß ein junges, großes und schlankes Mädchen, in deren Zügen sich ebenso viel Liebenswürdigkeit als Bosheit ausdrückte.
Sie richtete auf Raymon einen halb spöttischen, halb schmeichelnden Blick, der ihn zu gleicher Zeit anzog und zurückstieß. Die junge Dame wußte das Gespräch bald auf Frau Delmare zu lenken.
„Sie waren mit den früheren Bewohnern dieses Hauses sehr genau bekannt,“ sagte sie, „und es ist sehr freundlich von Ihnen, hier neue Gesichter aufzusuchen. Frau Delmare“, fügte sie hinzu, einen durchdringenden Blick auf Raymon werfend, „soll eine ausgezeichnete Frau gewesen sein und muß für Sie hier Erinnerungen zurückgelassen haben, die uns in den Schatten stellen.“
„Sie war eine treffliche Frau,“ antwortete Raymon gleichgültig, „und ihr Gatte ein würdiger Mann.“
George Sand: Indiana. Karl Prochaska, Leipzig [u.a.] [1904], Seite 152. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:George_Sand_Indiana.djvu/152&oldid=- (Version vom 31.7.2018)