Seite:George Sand Indiana.djvu/155

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erstrebte, sie liebte ihn nicht, weil sie ihn zu genau kannte.

Für dieses junge Mädchen gab es weder Jugend noch süße Träume, noch eine trügerische Zukunft. Ihr war das Leben eine kalte Berechnung und das Glück eine kindische Täuschung, gegen die man sich wie gegen eine alberne Schwäche wappnen müsse.

Während Raymon an der Verwirklichung seines Glückes arbeitete, näherte sich Indiana den Küsten Frankreichs. Wie groß war ihr Erstaunen und ihr Schrecken, als sie, im Hafen angelangt, die dreifarbige Fahne auf den Mauern von Bordeaux wehen sah. Eine gewaltige Aufregung herrschte in der Stadt, der Präfekt wäre fast am Tage vorher ermordet worden; das Volk erhob sich von allen Seiten, die Garnison schien sich auf einen verzweifelten Angriff vorzubereiten und man kannte den Ausgang der Revolution in Paris noch nicht. „Ich komme zu spät!“ war der erste Gedanke, der Indiana wie ein Blitzstrahl durchzuckte. In ihrem Entsetzen ließ sie das wenige Geld und die Sachen, die sie besaß, auf dem Schiffe zurück und begann in einer Art Geistesverwirrung die Stadt zu durchirren. Sie suchte einen Eilwagen nach Paris, aber die Postwagen waren mit fliehenden Reisenden überfüllt. Erst gegen abend fand sie einen Platz. Im Augenblick, wo sie in den Wagen steigen wollte, erschien eine Patrouille der schnell improvisierten Nationalgarde und verlangte die Papiere der Reisenden. Indiana hatte keine. Während sie darüber unterhandelte, hörte sie in ihrer Nähe sagen, der König sei abgesetzt und entflohen und die Minister mit allen ihren Anhängern ermordet. Diese mit lautem Freudengeschrei aufgenommenen Gerüchte versetzten Indiana einen tödlichen Schlag. In dieser ganzen Revolution interessierte sie persönlich nur die Person und das Schicksal eines einzigen Menschen. Sie sank ohnmächtig auf das Pflaster und kam erst in einem Krankenhause nach mehreren Tagen wieder zum Bewußtsein.

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George Sand: Indiana. Karl Prochaska, Leipzig [u.a.] [1904], Seite 155. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:George_Sand_Indiana.djvu/155&oldid=- (Version vom 1.8.2018)