an die Spitze der täglich mehr anschwellenden Bewegung und wurde gleichsam über Nacht ein gewaltiger Volksmann, ja, eine europäische Macht, mit welcher die größten Herrscher rechnen mußten. Luther war mehr wie jeder andere der bewußte Ausdruck dessen, was die Massen in ihrem dunkeln Drange bewegte, aber er war mehr als das, er verkörperte zugleich in sich das Dichten und Trachten seiner klarer und heller sehenden Zeitgenossen und wurde durch die Vereinigung dieser beiden Eigenschaften sehr bald der mächtige Führer im Streit.
Es kann selbstredend nicht die Aufgabe des vorliegenden Werks sein, die Entwickelung der Reformation zu erzählen. Dagegen liegt ihm als einer Geschichte des Buchhandels die Pflicht ob, die Wechselbeziehungen hervorzuheben, in welche jene gewaltige Bewegung zum deutschen Buchdruck und Buchhandel steht, und durch die Schilderung der äußerlichen Erfolge der Werke Luthers sowohl, als der gleichzeitigen Volks- und Flugschriften die Geistesbewegung jener Zeit und die ungewöhnlich schnell wachsende Macht der Presse dem Verständnis näher zu rücken.
Außer seinen übrigen Ruhmestiteln hat sich Luther auch das große Verdienst um das deutsche Volk erworben, daß er der Schöpfer der hochdeutschen Litteratur ist. Wenn man die Ausbreitung der Buchdruckerkunst in den Anfang des letzten Drittels des 15. Jahrhunderts setzt, so war sie bei Luthers erstem öffentlichen Auftreten gerade ein halbes Säkulum lang in Thätigkeit gewesen, indessen immer noch dem Volke ziemlich fremd geblieben. Bis dahin hatten in der Litteratur die Scholastiker und Humanisten fast die ausschließliche Herrschaft behauptet; der Befriedigung ihrer Bedürfnisse hatten Buchdrucker und Buchhändler fast ausschließlich gedient. Jene aber schrieben nur ausnahmsweise Deutsch; das Lateinische galt ihnen als vornehmer, zog es doch zwischen ihnen und dem profanum vulgus eine unübersteigbare Scheidelinie! Luther aber war gerade in der größten Zeit seines Lebens (1517 bis 1524) der demokratische Agitator, der sich auf die große Masse des Volks stützen mußte, wenn er siegen wollte. Er konnte die Menge aber nur aufrütteln und anregen und zum selbständigen Denken und geistigen Leben emporheben, wenn er sich in der ihr allein verständlichen, in der deutschen Sprache an sie wandte. Die Schneidigkeit seines Wesens, die Kraft seiner Worte, die Beredsamkeit seiner Beweise zündeten und machten überall, selbst auf die Gegner einen mächtigen, schwer zu überwindenden
Friedrich Kapp: Geschichte des Deutschen Buchhandels Band 1. Verlag des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler, Leipzig 1886, Seite 406. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Geschichte_des_Dt_Buchhandels_1_07.djvu/002&oldid=- (Version vom 1.8.2018)