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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Staatsmänner,[1] sondern vor allem auch die Institutionen beider Verbindungen nach ihrem objektiven Befund, welche gegenüber den deutschen Einzelstaaten das Walten einer eigenständigen souveränen Oberstaatsgewalt direkt bewähren: a) Die Verfassungen beider Verbindungen stellen übereinstimmend den zwingenden Rechtsgrundsatz auf, dass Veränderungen der Gesamtverfassung nur im Wege der Bundesgesetzgebung selbst erfolgen, also durch einen Akt des Rechtssetzungswillens des Ganzen, der demnach juristisch über die den Einzelstaaten verbliebene Kompetenzsphäre nach Belieben verfügt und jedenfalls befreit ist von der Notwendigkeit einer ihm in juristischer Selbständigkeit gegenübertretenden Zustimmungserklärung eines Einzelstaats. Nicht ein juristisch selbständiges Gegenübertreten von Gesamtwillen und Gliedstaatswillen, sondern nur einen besonderen Weg für die Bildung des Gesamtwillens, der durch das vorschriftsmässige Gegenübertreten der Gliedstaatswillen im Bundesrate gewonnen wird, sieht Art. 78 nordd. B. V. vor, wenn er für Verfassungsänderungen im Bundesrat Zweidrittelmajorität fordert, und desgleichen Art. 78 R. V., wenn bei Verfassungsänderungen im Bundesrat sei es 14 Stimmen nicht dagegen sein dürfen, sei es positive Zustimmung eines sonderberechtigten Gliedstaats vorliegen muss. – b) Die Verfassungen beider Verbindungen stellen übereinstimmend den zwingenden Rechtsgrundsatz auf, dass die Bundesgesetze den Landesgesetzen vorgehen und durch die von Bundes wegen erfolgende Publikation ohne weiteres auch die Einzelnen innerhalb des Bundesgebiets verpflichten (Art. 2). – c). Die Verfassungen beider Verbindungen haben namentlich im Bundesrat und Reichstag Organe des Ganzen geschaffen, deren Tätigkeit durch nichts anderes in der Welt ersetzt werden kann, und die einer Willensbildung diensam sind, die sogar mit den übereinstimmenden Willensentschlüssen sämtlicher Einzelstaaten in Kontrast treten und dieselben überwinden kann. – Die deutschen Einzelstaaten haben dagegen den Staatscharakter behalten. Sie machen in bestimmter Sphäre eine eigenständige, nicht vom Ganzen abgeleitete Befehlsmacht geltend. Insbesondere äussert sich dieselbe in der Selbstbestimmung der Landesorganisation. Nur die „Souveränetät“ haben die Einzelstaaten zugunsten des Ganzen eingebüsst. Namentlich Preussen ist nicht mehr souverän. Es muss sich dem in gültig zustandegekommenen Reichsgesetzen enthaltenen Reichswillen fügen, wenngleich es bei der Stimmabgabe der Gliedstaatswillen im Bundesrat gewisse Abstimmungsprivilegien besitzt (Art. 5, 6, 35, 37, 78 R. V.).

Als Träger der eigenständigen souveränen Oberstaatsgewalt kommt weder im nordd. Bund, noch im neuen deutschen Reich ein Einzelindividuum in Betracht, sondern die Einheit der verbundenen Einzelstaaten. Mithin passt für beide Verbindungen allein die Verfassungsform der


  1. Abg. Miquel im Reichstag am 19. III. 1867, Bezold Materialien Bd. 1 S. 401; Abg. Schulze-Delitzsch S. 207. Obwohl für den Bundesstaatscharakter des nordd. Bundes und des Reichs die bei weitem überwiegende Majorität sich ausspricht, herrscht die grösste Meinungsverschiedenheit über die juristische Wertung der Gründungsvorgänge bei beiden Gebilden. Da die nordd. Staaten vor dem nordd. Bund souveräne Völkerrechtssubjekte waren, besassen sie als solche die Fähigkeit, durch Staatsvertrag sich über eine Ordnung zu verständigen, kraft deren sie unter Einschränkung ihrer völkerrechtlichen Persönlichkeit und ihrer Herrschermacht hinfort als Glieder einem übergeordneten souveränen Gesamtstaat angehören sollten. Freilich trat dadurch der nordd. Bund mit der nordd. Bundesverfassung selbst noch nicht ins Leben. (Vgl. Jellinek, Staatslehre S. 758.) Die Entstehung eines Staats bedarf immer einer bestimmten Entwicklung von innen heraus: es muss in Darstellung des neuen Staatswesens von innen heraus ein Herrscher auftreten, welcher in eigener Entschlussfassung durch eine entsprechende direkte oder indirekte Betätigung seiner eigenständigen Rechtsnormierungsfunktion sich Staatsgebiet, Staatsvolk und überhaupt die Staatsordnung aneignet. In dieser Weise hat auch der Herrscher im nordd. Bund, die Einheit der verbündeten nordd. Staaten, sich wirklich bewährt (Vertragsschliessung v. 8. VII., Ernennung des Bundeskanzlers am 14. VII., Publikandum v. 26. VII. 1867. Vgl. Haenel, St.R. I. 23 f., Meyer-Anschütz S. 177), und der 1. Juli 1867, seit welchem die rechtliche Möglichkeit solcher Bewährung gegeben war, kann als Geburtstag des nordd. Bundes und der nordd. Bundesverfassung als des inneren Verfassungsgesetzes des neuen Bundesstaats mit Fug angesehen werden. Bei der Entstehung des Reichs am 1. I. 1871 handelte es sich bloss um den Eintritt einiger neuer Mitglieder in ein bereits bestehendes Bundesstaatswesen, selbstverständlich mit entsprechender Änderung der Bundesverfassung. Die Aufnahme der neuen Mitglieder erfolgte auf Grund von Unterwerfungsverträgen derselben mit der bestehenden Bundesgewalt durch einen Akt der Gesetzgebung der letzteren (Publikation der Novemberverträge im Bundesgesetzblatte. Vgl. Jellinek S. 760. Triepel S. 182: „Die Reichsverfassung . . .am 1. Januar 1871 . . . zustandegekommen als Gesetz des nordd. Bundes“).
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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 85. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/105&oldid=- (Version vom 15.7.2021)