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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

betr. Verwaltungsbehörde. Deshalb wird nur die eine Forderung zu erheben sein, dass es dem Individuum frei stehen muss, gegenüber der Straffestsetzung durch die Verwaltung die ordentliche Strafrechtsschutzstelle, das Gericht anzurufen – eine Forderung, der das geltende Recht wenigstens grundsätzlich genügt.

2. Aus dem Gros der Strafsachen sind heute gesetzlich bestimmte Gruppen derart herausgehoben, dass ihre Erledigung besonderen Stellen zufällt, die in ihrer Gesamtheit die Organe für eine von der „ordentlichen“ abgezweigte „Sonderstrafgerichtsbarkeit“ darstellen. Von diesen Sonderstrafgerichten haben sich die Elbzoll- und Rheinschiffahrtsgerichte zweifellos überlebt; ein praktisches Bedürfnis für sie besteht um so weniger, als sie de facto schon in die Hierarchie der ordentlichen Gerichte übergeführt sind (Amtsgerichte); ihrer Beseitigung stehen nur internationale Verträge entgegen, an deren Aufrechterhaltung in dieser Beziehung aber schwerlich ein Interesse der beteiligten Staaten besteht. Gleichfalls nur noch als historisch überkommen sind zu nennen die sog. Austrägalgerichte gegen die Häupter der standesherrlichen Familien (verbrieftes Privileg). Kaum durch innere Erwägungen gerechtfertigt sind ferner die sog. ausserordentlichen Stand- und Kriegsgerichte, die da, wo der sog. Kriegs-(Belagerungs-)zustand verhängt ist, die ordentlichen Gerichte in gewissem Umfang ablösen; die von ihnen erwartete Schleunigkeit der Prozedur kann auch innerhalb der ordentlichen Gerichtsbarkeit durchgeführt werden; die von ihnen erwartete Strenge der Beurteilung ist zu missbilligen, soweit sie nicht als eine durch das Gesetz gedeckte gedacht ist, und ist, soweit sie de lege ferenda berechtigt erscheint, durch das materielle Strafrecht zu gewährleisten; der Gedanke, dass die Vorstellung, man werde vor ein ausserordentliches Stand- oder Kriegsgericht gestellt werden, besonders unheimlich sei und daher von der Verübung strafbarer Handlungen abschrecken werde, ist, solange die Belagerungszustandsgerichte wie alle anderen auch nur „Recht“ sprechen und nicht Gewalt üben dürfen, verfehlt.

Anders steht es mit den Militärgerichten. Für sie spricht vornehmlich der Grund, dass die aus dem militärischen Leben erwachsenen Strafsachen regelmässig nach der tatsächlichen, oft aber auch nach der rechtlichen Seite hin besser von militärischen „Spezialisten“ beurteilt werden können, sowie der andere, dass die Erledigung dieser Strafsachen durchschnittlich eine Störung des geordneten Ganges des militärischen Lebens mit sich bringt, und diese Störungen viel grösser sind, wenn die mit dem Heeresverband nicht in Fühlung stehenden ordentlichen Gerichte die Strafsache zu erledigen haben.[1] Die Idee der „Gleichheit aller vor dem Gesetz“ kann demgegenüber nicht durchschlagen, sofern nur die Gerechtigkeitsgarantien hüben und drüben gleich gross sind.

Die reichsrechtlich zugelassenen Sondergerichte gegen Mitglieder der landesherrlichen Familien endlich rechtfertigen sich mindestens so lange, als das Reichsrecht weitergehend sogar ihre völlige Befreiung von der Gerichtsbarkeit zulässt. Im übrigen lässt sich dieses Problem wohl kaum anders als aus der subjektiven politischen Grundauffassung heraus beantworten.

3. Ob und inwieweit die Strafrechtspflege auf Selbstverwaltung gestellt werden soll, ist hier insoweit nicht zu erörtern, als es sich um die Zuziehung des Laienelements handelt (darüber vgl. Abschn. 22 und 24b dieses Handbuchs). Dagegen ist hervorzuheben, dass das geltende Recht eine Selbstverwaltung der unteren Gerichtsstellen im Gegensatz zu den vorgesetzten Behörden insofern kennt, als ihnen die Bildung der Rechtsprechungskörper an den Gerichtsanstalten (teilweise) und die Geschäftsverteilung zugewiesen ist. Diese Einrichtung bedeutet eine Art Autonomie der Gerichte und weist einen verwandten Zug mit den englischen rules auf. Sie ist ebenso als Garantie der Unparteilichkeit schätzenswert, wie sie zugleich auch die Leiter der Justizverwaltung vor Verdächtigungen bewahrt.

4. Die Forderung, dass die Richterstellen den Frauen eröffnet werden sollen, lässt sich (unbeschadet der durchaus zu trennenden Fragen, ob Frauen zum Rechtsanwaltsberuf und zu sonstigen nichtrichterlichen Funktionen zuzulassen seien) jedenfalls für die Strafrechtspflege kaum verteidigen. Der Strafrichter muss imstande sein, seine Sympathien mit dem Angeklagten und


  1. Auf die Abgrenzung der Militär- und der ordentlichen Gerichtsbarkeit kann hier nicht eingegangen werden.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 357. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/377&oldid=- (Version vom 14.8.2021)