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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Auch die Zulassung einer Berufung lediglich wegen des Strafentscheids, österr. 345, stösst schon wesen dessen Abhängigkeit von nicht-begründetem Schuldentscheid auf starke Bedenken.

Die „Berufung“ gegen Schwurgerichtsurteile nach Norweg. 378 fg. entspricht abgesehen von Anfechtung des Strafentscheids wesentlich der deutsch. Revision.

VI. Die Schwurgerichtsform bringt wegen der überlieferten Zwölfzahl der Geschworenen (9 wären genügend, 10 in Norwegen) und ihrer Auslosung für die einzelne Verhandlung unter Gewährung von Ablehnungsrechten an die Parteien eine recht erhebliche Belastung des Laienelements mit sich. Um die Störungen des bürgerlichen Berufes auf bestimmte Zeit zu beschränken, werden die Schwurgerichte nur periodisch gebildet (wovon jedenfalls nur bei Reduktion der Geschworenenzahl und der Ablehnungsrechte abgegangen werden könnte). Wiederholte Reduktionen – nach Reichsrecht 2 Wahlen und 2 Losungen – ergeben aus der Masse der Pflichtigen die Jury des Einzelfalls. Gleichmässige Heranziehung ist – wegen der Auslosungen für die Einzelsachen – nur unvollkommen erreichbar. Die Gewinnung der Geeignetsten – nach Intelligenz, Lebenserfahrung, bürgerlichem Ansehen, Unabhängigkeit des Urteils – strebt das Reichsrecht, unter Verzicht auf gesetzliche Beschränkungen in Form von Vermögens-, Bildungs-Zensus (so in den meisten frühem deutsch. Gesetzen) durch die Zusammensetzung der Wahlorgane an.

Schwurgericht und Schöffengericht haben Berechtigung nur als Gericht der Redlichen und Befähigten nach einer allein auf diese Eigenschaften gerichteten Auswahl. Vor einem Gericht der „honestiores“ über die „humiliores“, des „dritten“ Standes über den „vierten“, also die Klassen mit der grössten Kriminalitätsziffer (gemäss den sozialen Ursachen des Verbrechens), hat das reine Beamtengericht den Vorzug.

Ein ganz niedriger Zensus (Steuersatz pp., England, Österreich, Ungarn; ziemlich hoher Zensus in Belgien) trägt gewiss nicht die Vermutung einer besondern Befähigung und eine noch so weite Ausdehnung der „Kapazitäten“ (nach Bildung, Stand pp., so besonders im italien. Ges. 8. 6. 1874) lässt die Hauptmasse der Erwerbstätigen unberührt. Jede derartige Beschränkung aber muss auf die Ausgeschlossenen verbitternd wirken. Der österr. E. kennt einen Zensus nicht mehr.

Mit Recht sind der deutsche u. österr. E. bestrebt, durch die Gewährung von Tagegeldern den Geschworenen- (Schöffen-)Beruf auch den Unbemittelten, insbes. den „Arbeitern“, zugänglich zu machen.

Alle Bevölkerungsschichten sind bei der Auswahl möglichst gleichmässig zu berücksichtigen. Für die grosse Mehrzahl der Frauen (in Norwegen zugelassen) passt jedenfalls zurzeit das Richteramt nicht, mag man den Grund finden in unbildungsfähiger sozialer Lage oder in bleibender durchschnittlicher Eigenart.

Schwurgerichtsbildung nach Reichsrecht. Die Gesamtheit der Pflichtigen wird in den Urlisten, aufgestellt von den Gemeinde-Vorstehern, befasst. Diese Listen dienen zugleich der schöffengerichtlichen Rechtspflege. Neben gesetzlich Unfähigen (mit Verlust der Ehrenrechte Bestraften, Konkursschuldnern pp.) haben den Urlisten fern zu bleiben solche, die nicht berufen werden „sollen“, noch nicht Dreissigjährige, Beamte, deren Aufgaben mit denen eines unbeamteten Richters nicht verträglich scheinen, nach geltendem Recht auch Volksschullehrer pp. (verfehlte, im öst. E. aufgegebene Beschränkung, durch die tüchtige, bei Aburteilung Jugendlicher sogar besonders geeignete Elemente ferngehalten werden). Ablehnungsberechtigte (mehr als Fünfundsechzigjährige, Mitglieder gesetzgebender Versammlungen pp.) sind aufzunehmen. Aus der Urliste für den Amtsgerichtsbezirk wählt ein bei diesem Gericht jährlich zusammentretender Ausschuss (Amtsrichter als Vorsitzender, ein Staatsverwaltungsbeamter, sieben Vertrauensmänner; zweckmässige Unparteilichkeit, Personalkenntnis, das Vertrauen der Gerichts-Eingesessenen der Wahl nach Möglichkeit sicher stellende Zusammensetzung)[1] diejenigen Personen aus, die er für das nächste Geschäftsjahr zu Geschworenen vorschlägt: Vorschlagsliste, bemessen nach dem dreifachen Betrag der auf den Amtsgerichtsbezirk fallenden Geschworenenzahl. Die Vorschlagslisten der zugehörigen Amtsgerichtsbezirke liefern das Material für die Jahresliste (in Österr. und Ungarn direkt aus der Urliste gewählt) des Schwurgerichtsbezirks; das Landgericht wählt aus nach Prüfung der Vorschlagslisten auf gesetzliche Befähigung pp. der Geschworenen hin und nach Bescheidung bezüglicher Einsprachen. Mit der Jahreshauptliste verbindet sich die Jahreshilfsliste: eine Reserve leicht erreichbarer, in der Nähe der Gerichtsstelle wohnender Geschworenen zur Deckung eines Ausfalls (Behinderung, unentschuldigtes Ausbleiben pp.) bei einzelnen Verhandlungen. Die Jahreshauptliste ergibt durch Auslosung – seitens des Landgerichtspräsidenten – die Spruchlisten (in Österreich: „Dienstlisten“) von je 30 Geschworenen für die einzelnen Sitzungsperioden. Die Jahreshilfsliste bleibt für alle Sessionen. Der Schlussakt des Bildungs-Prozesses, die Auslosung der einzelnen Jury aus den erschienenen, nicht durch gesetzliche Gründe (Verwandtschaft


  1. Auswahl durch abhängige Verwaltungsorgane, wie besonders in der frühern französ. Gesetzgebung, bringt das Schwurgericht in Abhängigkeit von der Regierung oder erzeugt doch diese Annahme.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 368. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/388&oldid=- (Version vom 18.8.2021)