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Kabinettssitzungen, unter dem Vorsitz des Souveräns, kann wohl zum letztenmale im Sommer 1717 gesprochen werden. Von nun an erfolgen sie nur ausnahmsweise, um bald völlig zu verschwinden. Der ohne den König tagende Ministerrat hat den Namen wie die Geschäfte des Kabinetts an sich genommen. Das Bestreben der Minister, sich in ihrer Amtsführung der regelmässigen Kontrolle des Souveräns zu entziehen, hat gesiegt. Dieses Bestreben aber entsprang dem Gefühl der Verantwortlichkeit gegenüber dem Parlamente. Der Monarch kann die Minister nur entlassen, das Parlament aber droht mit Anklage und Hinrichtung. So wird das Kabinett selbständiger, es erhält eine Art Mittelstellung zwischen dem Monarchen und dem Parlament, vom Monarchen abhängig, aber dem Parlamente verantwortlich.[1]

Mit dem Ausscheiden des Souveräns aus dem Kabinett hängt auch das Aufkommen des Premierministers zusammen. Er tritt gewissermassen in die Lücke ein, die der Monarch im Kabinett hinterlassen hat. Die erste grosse Persönlichkeit, mit der das Amt diese Bedeutung erhielt, war Robert Walpole. Seine Ministerlaufbahn (1721–42) ist auch für die Geschichte des Parlamentarismus von höchster Bedeutung. Er hat energisch das Prinzip vertreten, dass das Kabinett mit der Mehrheit des Unterhauses im Einvernehmen stehen, d. h. nur aus Mitgliedern der herrschenden Partei zusammengesetzt sein müsse. Er selbst legt als Mitglied des Unterhauses (er ist der erste leitende Staatsmann, dem der Ehrenname „der grosse Commoner“ verliehen wurde) diesem in allen wichtigen Fällen den Standpunkt der Regierung persönlich dar. Er ist Meister der Debatte, er versäumt keine wichtige Sitzung, er lebt recht eigentlich im Parlamente.

Und doch steht er diesem wie der Vertreter fremder Interessen gegenüber. Die Minister sind noch nicht die Vertrauensmänner des Parlaments, sondern die Diener der Krone. Indem der König den fähigsten Mann im Parlament für sich gewonnen hat, hat er ihn an ein, dem Parlamente fremdes Interesse, gefesselt. Der Minister sucht und findet die Stütze seiner Macht am Thron des Königs, nun aber liegt ihm die Aufgabe ob, sich die Mitarbeit des Parlaments zu sichern, um regieren zu können. Auf seine grosse Whigmajorität darf Walpole sich nicht schlechthin verlassen. Spaltungen treten ein. Wiederholt verbindet sich ein starker Flügel mit der Gegenpartei, die Opposition droht oft übermächtig zu werden. Der Minister arbeitet mit allen Mitteln der Überredung, der Agitation, er wirkt durch die Presse. Aber das alles genügt nicht immer. Er greift noch zu einem anderen Mittel, der Korruption. Walpole hat die sicherlich verwerfliche Praxis, die Unterhausmitglieder zu bestechen, zwar nur übernommen, wie sie auch mit seinem Rücktritt nicht verschwand, aber er gilt nun einmal als ihr typischer Vertreter. In Wahrheit hat er stets nationale Politik getrieben, England ist unter seiner friedlichen Regierung reich und mächtig geworden. Das grössere Odium liegt auf seiten der Bestochenen. Für den Minister ist die Korruption nur das letzte Mittel, um der Herr im Parlamente zu bleiben. In der Geschichte des Parlamentarismus aber bezeichnet sie diejenige Periode, in welcher das Kabinett, oder man sage die Krone, noch ihre eigene Politik verfolgt, ohne aber die Mitarbeit des zu politischer Selbständigkeit gelangten Parlaments entbehren zu können. Sie sichert sich diese Mitarbeit durch die Korruption.

Das Bild ändert sich, als 1756 der ältere William Pitt ins Ministerium eintritt. Er ist der erste grosse Minister, der, durch das Vertrauen des Volks emporgehoben, vom Parlamente aus dem Könige aufgezwungen wird. Man hat es so ausgedrückt: Walpole war dem Volke vom Könige gegeben worden, Pitt ward dem Könige durch das Volk gegeben. Mit seiner Erhebung war das Prinzip des reinen Parlamentarismus zum Siege gelangt, und es hat sich, wenn wir von den episodenhaften Versuchen, der Krone wieder stärkeren Einfluss im politischen Leben zu sichern, absehen, fortan stets behauptet. Die beiden Parteien der Whigs und Tories stehen einander nunmehr als Regierung und Opposition gegenüber. Diejenige von ihnen, welche im Unterhause die Mehrheit hat, gibt alle Entscheidungen im Hause, insbesondere aber besetzt sie alle politischen Ämter, bildet also allein die Regierung, d. h. mit völligem Ausschluss der Gegenpartei. Diese ist zur Rolle des Zuschauers verurteilt, aber nicht des untätigen Zuschauers. Denn obwohl sie in der Gesetzgebung wie in der Exekutive nichts entscheiden kann, an der letzteren überhaupt gar keinen Anteil besitzt, so ist ihre Tätigkeit gleichwohl noch bedeutend, die Rolle, die sie zu spielen hat. noch wichtig genug. Denn sie ist


  1. Die bisher herrschende (auch von mir noch in der 1. Auflage dieses Handbuches vertretene) Auffassung, dass die Unkenntnis der englischen Sprache den König aus dem Kabinette getrieben habe, ist nach meiner neuesten Untersuchung (Zeitschrift für Politik VI. 4. 1913) nicht mehr haltbar.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 390. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/410&oldid=- (Version vom 21.8.2021)