Seite:Handbuch der Politik Band 1.pdf/411

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

die Opposition. Sie hat als solche die Aufgabe, die Massregeln der Regierung und die von der Majorität beschlossenen Gesetze zu kontrollieren, zu kritisieren, zu bekämpfen. Sie muss immer so tun, als ob bei ihr das Interesse der Nation viel besser aufgehoben sein würde, als bei den gegenwärtigen Machthabern. Sie darf freilich auch nicht zu viel versprechen, nicht einen Zukunftsstaat malen, in dem alle Wünsche erfüllt sind, denn sie kann in jedem Augenblick, d. h. durch jede Neuwahl zu dem Rollentausch gezwungen werden, den herbeizuführen ihr vornehmstes Bestreben war. Ist das geschehen, so besitzt sie nun selbst die Majorität, bestimmt den Charakter der Gesetzgebung, besetzt mit ihren eigenen Leuten die Ministerposten und muss dem Lande zeigen, wie weit sie fähig ist, ihre Versprechungen wahr zu machen. Die Opposition kämpft mit allen Mitteln, sie droht im 18. Jahrhundert mit der Ministeranklage, im 19. mit dem Tadelsvotum, aber sie versucht nicht, die Regierung wirklich lahm zu legen. Denn beiden Parteien gemeinsam ist der starke, über jeden Zweifel erhabene Patriotismus des Engländers, beide sind sie schlechthin national, beide stehen sie auf dem Boden der Monarchie, überhaupt der Verfassung.

Mit diesem System trat England in das 19. Jahrhundert ein. In der Zusammensetzung des Unterhauses hat sich seither vieles geändert. Die Union mit Irland (1801), welche erst durch die Katholikenemanzipation von 1829 ihre volle Bedeutung für das Parlament erhielt, brachte 100 irische Abgeordnete ins Unterhaus, d. h. eine starke Gruppe mit einseitig irischen und damit teilweise unenglischen Interessen und Gesichtspunkten. Die stärkste Umgestaltung erfuhr aber die Zusammensetzung des Unterhauses durch die Parlamentsreform von 1832. Im 18. Jahrhundert hatte auch das Unterhaus einen stark aristokratischen Charakter gehabt. Es gab eine grosse Zahl kleiner Wahlflecken, deren Vertreter tatsächlich durch den Grundherrn einfach ernannt wurden. So rechnete man sich aus, dass von den 658 Mitgliedern des Unterhauses 300 unter dem Einflusse von Lords des Oberhauses, 171 unter dem anderer Landedelleute, 16 unter dem dsr Krone und nur 171 frei gewählt wurden. Jene Wahlflecken, die sogenannten rotten boroughs, waren zuzeiten in Menge von der Krone kreiert worden, während andererseits grosse städtische Zentren, wie Manchester und Birmingham, gar keine Vertretung im Parlamente besassen. Die hierin liegenden Ungleichheiten nahm man jetzt nicht mehr so gleichmütig hin, wie in früherer Zeit, wo man fand, dass es weniger auf die Zusammensetzung des Parlaments ankomme, als auf den Geist, der in ihm walte, und als Wellington noch 1830 erklärte, er würde, wenn er ein Parlament für irgendein Land einzurichten hätte, sich genau nach dem Vorbild des englischen richten, da befand er sich nicht mehr in Übereinstimmung mit der Volksmeinung. Die 1832 durchgeführte Parlamentsreform bestand also zunächst in einer Neuordnung der Wahlkreise, aber zugleich ward in den Wahlbezirken der Kreis der Wähler erweitert, so dass nunmehr die breiten Mittelklassen im Unterhause ausschlaggebend wurden. Noch zweimal ward das Wahlrecht zum Unterhause reformiert, nämlich 1867 und ferner durch die Gesetzgebung von 1884 und 85. Es ist immer weiteren Kreisen der Bevölkerung verliehen worden, sodass England heute von unserem System des allgemeinen gleichen Wahlrechts nicht mehr weit entfernt ist. Diese Reformen haben bereits zur Demokratisierung des Unterhauses viel beigetragen und werden noch ferner dahin wirken.

Eine andere Wirkung des Eindringens neuer Elemente besteht in der Auflösung des alten Parteischemas. Es gibt nicht mehr zwei, sondern, wenn man auch nur die Hauptgruppen der Iren und der Arbeitervertreter als besondere Parteien gelten lässt, deren vier. Immerhin wirken Tradition und Praxis dahin, dass durch feste Allianzen zwischen den verschiedenen Parteien doch wieder die alte Zweiheit von Regierung und Opposition zum Vorschein kommt, so dass an der hergebrachten Technik des Parlamentarismus auch heute nicht so viel geändert erscheint, wie manche glauben. Anders steht es freilich mit der Frage, wie weit durch diese Allianzen die ursprünglichen Programme der führenden Parteien auf jeder Seite verschoben werden können. Es braucht nur daran erinnert zu werden, wie gegenwärtig (1911) die liberale Regierung zum Teil die Politik der Iren besorgt, nur weil sie ohne diese nicht besitzen würde, was der Engländer „a working majority“ nennt.

Zum Schlusse noch ein Wort über das Oberhaus. Es hat sich trotz der oft ausgesprochenen Forderung nach einer Reform, bis in die allerneueste Zeit, in seiner historischen Stellung behauptet. Als gesetzgebender Faktor stand es mit gleichem Rechte neben den Commons. Nur gegenüber solchen Vorlagen (den sogenannten money bills), welche Finanzfragen betreffen, war durch die Praxis der Jahrhunderte zuerst ein Vorstimmrecht, dann ein Alleinbewilligungsrecht der Gemeinen

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 391. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/411&oldid=- (Version vom 21.8.2021)