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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Staatsgewalt von oben her durch grössere oder kleinere Bezirksverbände bis hinunter in lokale Verhältnisse. Auf der anderen Seite, aus den persönlichen wirtschaftlich-sozialen Motiven, erwächst eine starke Differenzierung des Vermögens der Einzelnen auf agrarischem Gebiete und damit das Bildungsmotiv eines neuen agrarischen Adels. Die Merovinger haben nun mit diesen Motiven gearbeitet. Wir können sehen, wie sie den neuen Adel begünstigen, und wie sie ihn durch ein altes Motiv des urzeitlichen Absolutismus, den Begriff des Dienstes und der Gefolgschaft an sich binden, wie sie auf diese Weise eine Klasse höher stehender Volksgenossen als Organe einer überall durchgreifend gedachten Verwaltung, der Grafen-Verwaltung, entwickeln, und wie sie sogar die neuen sich eben bildenden Lokalverbände in der Decretio Chlotarii et Childeberti ihrem Staate dienstbar zu machen suchen. Es sind das Richtungen der Entwicklung, die es zugleich gestatten, das alte Ziel des germanischen Staates, die Wahrung des Friedens, nun weit hinweg über die früheren kleinen Völkerschaftsgebiete auf ein grosses Reich zu erstrecken. Und mehr noch, indem in den Staat der Merovinger das Christentum einzieht, wird das Staatsideal gelegentlich auch schon auf Zwecke der persönlichen und sozialen Fürsorge erweitert. Freilich handelt es sich in dieser Hinsicht mehr um eine persönliche Tätigkeit der Könige, mehr um einen Ausfluss gleichsam eines individuellen Christentums in Angliederung an die uralte Verpflichtung der Herrschenden, im Haus Milde (Freigebigkeit) zu üben, so dass sich im ganzen und grossen das Staatsideal doch auf Friedenswahrung vornehmlich vermöge einer stark durchgreifenden Rechtspflege beschränkt sieht.

Schaut man über die merovingischen Zeiten hinweg hinein in das Reich der Karolinger, so kann man eigentlich nicht sagen, dass für die interne Entwicklung zu den merovingischen Zielen neue hinzugekommen wären. Nach aussen freilich tritt das Ideal der Kaiserkrone hinzu, und von ihm aus ergeben sich auch starke Reflexe auf das innere Verfassungsleben. Im ganzen aber sind die Ziele die alten, und nur dies unterscheidet das Zeitalter des neuen, anfangs ungemein kräftigen Herrschergeschlechts, dass sie mit grösserer Sicherheit durchgeführt werden. Inzwischen aber war schon eine neue Staatsverfassung im Anzuge:

III. Der Lehensstaat des Mittelalters.

Der Lehensstaat ist bekanntlich eine weit über die ganze Erde hin verbreitete Verfassungsform, die ganz regelmässig in naturalwirtschaftlichen Zeiten auftritt, wenn wir zunächst einmal die Datierung von der wirtschaftsgeschichtlichen Seite hernehmen wollen. Der Zusammenhang ist hier sehr einfach. Entsteht in urzeitlichen Staaten, mögen sie noch reiner Demokratie oder auch urzeitlichem Absolutismus angehören, mit zunehmender Sesshaftigkeit und zunehmender Entwicklung der Naturalwirtschaft das Bedürfnis steigender Friedenswirtschaft und Staatsverwaltung, so können in einem solchen Zustande, da Grund und Boden das einzig vorhandene wirtschaftliche Machtmittel ist, die Beamten nicht in Geld, sondern sie müssen in Erträgnissen von Grund und Boden bezahlt werden. Hieraus entsteht dann eine besondere Form relativer Unabhängigkeit der Beamten, denn während der geldwirtschaftlich bezahlte Beamte immer von dem Erfliessen seines Gehaltes von einer bestimmten Zentralkasse abhängig bleibt, ist der naturalwirtschaftlich besoldete im Besitze des Grundes und Bodens, dessen Erträgnisse ihm als Gehalt dienen, und verfügt damit, geldwirtschaftlich ausgedrückt, gleichsam über das Kapital, als dessen Zinsen sein Gehalt erscheint. Diese Stärke gibt ihm eine verhältnismässig grosse Freiheit. Allerdings lassen sich lehensstaatliche Verhältnisse auch noch anders entwickelt denken. Namentlich in späteren Stadien des Lehenswesens, bei Beginn der Geldwirtschaft, kann es vorkommen, dass zahlreiche Lehen auf Geld eintreten. Dieser Fall, wie eine ganze Reihe anderer hier nicht zu erwähnender Indizien, ergibt nun schon, dass es sich bei dem Lehenswesen allerdings vornehmlich um eine naturalwirtschaftliche Erscheinung handelt, dass das naturalwirtschaftliche Motiv aber an sich das Wesen des Lehenswesens noch nicht deckt. Vielmehr tritt als eigentlich charakteristisch ein psychologisches Motiv auf, das der Treubindung. Der Fall ist deshalb in so hohem Grade interessant, weil uns die Quellen für die Lehenszeit zum ersten Male stark genug fliessen, um eine unbedingt sichere Verbindung zwischen den höheren psychologischen Motiven und der Entwicklung der staatlichen

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/43&oldid=- (Version vom 1.7.2021)