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Mitteln, namentlich seinen enormen Geldquellen besser und sicherer als eine Privatperson oder eine kleinere Organisation. Je leichter der Zweck durch einen grossen und starken Verband erfüllt, und je sicherer das fragliche Interesse befriedigt wird, desto grösser ist der Anspruch des Staates darauf, diese Tätigkeit vorzunehmen, und desto berechtigter ist umgekehrt die Forderung des Individuums an den Staat, dass dieser der Aufgabe sich unterziehe.

Diese zivilisatorische Tätigkeit des Staates ist heute eine ausserordentlich mannigfaltige; er unterstützt durch zahllose Gesetze das Individuum im Kampf ums Dasein; Land- und Forstwirtschaft, Handel und Gewerbe, Industrie und Verkehr wären ohne staatliche Hilfe wohl nie zu der Blüte gekommen, die sie im letzten Jahrhundert erreicht haben. Dazu kommt die sozialpolitische Gesetzgebung, an der sich zeigt, wie sehr die Sorge für die Allgemeinheit den heutigen Staat in Anspruch nimmt. Die moderne Fürsorgegesetzgebung, die sich mit dem Untertanen von der Wiege bis zum Grabe befasst und dabei – eine Erscheinung der neueren Zeit – einen Zug von Sentimentalität aufweist, hat neben den vielen guten Wirkungen auch so manche Schattenseite; man könnte den modernen Staat in dieser Beziehung dem Staate der Spartaner gegenüberstellen, der auf die Heranbildung eines kräftigen Geschlechts so grosses Gewicht gelegt hat.

Zu diesen zivilisatorischen Aufgaben des Staates gehört es auch, dann, wenn gewisse Zwecke von einer grösseren Anzahl Staaten leichter als vom Einzelstaat erfüllt werden können, die dazu erforderlichen internationalen Verbindungen anzustreben; die Solidarinteressen der Völker sollen an den Landesgrenzen keine Schranke mehr finden. Diese von den modernen Staaten zur Befriedigung derartiger Interessen geschlossenen grossen Zweckverbände nehmen jährlich an Zahl und Umfang zu und üben eine segensreiche Wirkung; man denke an den Weltpostverein, an die Konventionen zum Schutze gewerblichen und geistigen Eigentums und an alle die Verträge zur gemeinsamen Abwehr der verschiedensten Gefahren für Menschen, Tiere und Pflanzen. Diese sogenannte internationale Verwaltung löst Aufgaben für die Menschheit, wie der Einzelstaat es für sein Volk besorgt.

Aber das alles ist Zivilisation und nicht Kultur in der höchsten Bedeutung des Wortes. Kultur kann der Staat nicht schaffen, er kann nur indirekt durch seine zivilisatorische Tätigkeit dafür sorgen, dass die äusseren Bedingungen für die Bildung und Fortentwicklung der Kultur so günstig als möglich seien. Dabei kann er in zwei Richtungen die ihm zu Gebote stehenden Mittel zur Anwendung bringen: positiv, durch Förderung jener Tätigkeiten, die Vorbedingung für die Entwicklung der Kultur sind, also durch Errichtung von Schulen, Unterstützung von Kunst und Wissenschaft, u. dergl. und negativ dadurch, dass er Störungen und Gefahren der Kulturentwicklung fern hält.

Da Träger der Kultur nur die Individuen sein können, muss der Staat an deren Entwicklung ein vitales Interesse haben, denn aus ihnen besteht er und durch sie ist er bedingt, wie jedes Ganze durch seine Glieder. Nicht die Quantität der Untertanen allein, sondern vornehmlich ihre Qualität macht heute einen Staat stark und konkurrenzfähig im Wettstreit der Nationen. Je höher ein Individuum geistig steht, desto leichter und sicherer wird es sich in den Dienst der Gesamtheit stellen und die eigenen, egoistischen Interessen von denen des Gemeinwesens trennen können, so dass es im ureigenen Interesse des Staates liegt, seine Bürger in diesem Sinne heranzubilden. Jeder einzelne aus dem grossen Beamtenheer, das der moderne Staat aufweist, kann die Macht, die er in Händen hat, missbrauchen; kein Gesetz, keine Strafandrohung kann vor Missbrauch der Macht so wirksam schützen wie das Bildung, Kultur imstande sind.

Wie der Staat im einzelnen zur Erreichung dieses höchsten und schwierigsten Zweckes vorzugehen hat, ist hier nicht zu untersuchen, es würde viel zu weit führen, auch spielt hier die subjektive Meinung des Einzelnen die grösste Rolle.

Nur auf den Zusammenhang dieser neuesten und letzten Aufgabe des Staates mit seiner ursprünglichsten, der Selbsterhaltung sei zum Schluss noch kurz hingewiesen. Es ist eine in der Geschichte oft beobachtete Tatsache, dass minder kultivierte Nationen von höher stehenden im internationalen Wettstreit überflügelt werden; es ist sogar öfter vorgekommen, dass ganze Völkerschaften von den kulturell höher stehenden Nachbarn verdrängt und aufgesaugt wurden, wie z. B. die Burgunder durch die Römer. So erfüllt der Staat seine erste Pflicht, sich selbst zu schützen, durch seine Armeen nicht weniger sicher als durch Kultur.



Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 65. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/85&oldid=- (Version vom 10.7.2021)