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gelangt. Wäre ein solcher Vergleich möglich, so würde er wohl auch nicht zu ungunsten Deutschlands ausfallen.

Die deutsche Eisenindustrie bekam durch die Bildung des deutschen Zollvereins und den Bau von Eisenbahnen eine starke Anregung, hatte aber gegen die englische Konkurrenz einen schweren Stand, zumal sie noch die kostspielige Holzkohle verwendete, während England bereits zur ausschliesslichen Steinkohlenfeuerung übergegangen war. Der im Jahre 1844 eingeführte Roheisenzoll brachte den nötigen Schutz, unter welchem die Roheisenerzeugung des deutschen Zollgebiets von 143 Mill. im Jahre 1840 auf 1391 Mill. kg im Jahre 1870, also fast auf das Zehnfache anwuchs. Mit dem Zusammenbruch der Gründungsperiode und der Beseitigung der Eisenzölle im Jahre 1873 geriet die Industrie in eine schwierige Lage, weil im Inlande der Bedarf abnahm und vom Auslande die Konkurrenz zunahm. Doppelt wie die Bedrängnis war aber auch die Hilfe. Der Zolltarif von 1879 führte die Eisenzölle wieder ein und fast gleichzeitig verursachte das Thomas-Verfahren eine für Deutschland sehr vorteilhafte technische Umwälzung. Das ältere Bessemer-Verfahren gestattete nur die Verwendung phosphorarmer Erze, wie sie England in seinen berühmten Hämatit-Lagern an der Westküste besass. Nunmehr wurden die an Phosphor reicheren Minettelager in dem grossen Revier von Lothringen-Luxemburg verwendbar, welche denn auch gegenwärtig ungefähr vier Fünftel der gesamten deutschen Förderung in Eisenerzen liefern. Die Erzeugung von Thomas-Roheisen beträgt fast 70% der Roheisen-Erzeugung Deutschlands. Letztere stieg von 2729 Mill. kg im Jahre 1872 auf 14 794 Mill. kg im Jahre 1910. Damit hat Deutschland bis auf die Vereinigten Staaten von Amerika, welche im Jahre 1910 sogar 27 299 Mill. kg zu der Weltproduktion von 65 608 Mill. kg beitrugen, alle früher überlegenen Konkurrenten überflügelt, denn das in der Reihenfolge nächststehende Grossbritannien verzeichnet nur 10 216 Mill. kg. Die durchschnittliche Jahresleistung eines Hochofens betrug im Jahre 1872 nur 7500 Tonnen, im Jahre 1909 aber 45 320 Tonnen; die neuen Hochöfen werden auf Jahresleistungen von 50- bis 70 000 Tonnen eingerichtet. Die Ausfuhr Deutschlands an Eisenwaren (ohne Maschinen) stellt sich jährlich auf 600 bis 700 Mill. Mark, höher als die irgend eines anderen Landes.

Die deutsche Eisenindustrie gewährt uns auch einen interessanten Einblick in die Ursachen der örtlichen Verteilung einer Industrie überhaupt. Zuerst siedelte sich die Eisenindustrie an den Stätten lagernder Eisenerze an, gewöhnlich im waldreichen Gebirge, wo auch Holz zur Herstellung der Holzkohle und ein Gebirgsbach zum Betreiben des „Eisenhammers“ zu finden war. Sie war ähnlich wie die Glasindustrie fast ein forstwirtschaftliches Nebengewerbe und ging über den Rahmen eines nur wenige Personen beschäftigenden Handwerksbetriebes nicht hinaus. Als die grossen Waldverwüstungen in England den Übergang zur Steinkohlenfeuerung herbeiführten, übersiedelte die Industrie in die Kohlenreviere der Ebene, wo häufig auch günstigere Verkehrsgelegenheiten für den Bezug der Erze und den Absatz der fertigen Fabrikate vorhanden waren, „Das Erz geht zur Kohle“, sagte ein hüttenmännischer Grundsatz. Wie in den Vereinigten Staaten von Amerika die Erze aus dem Gebiete der grossen Seen nach den Kohlenfeldern von Pennsylvanien gebracht wurden, so wurde in Deutschland das Kohlengebiet von Rheinland-Westfalen mit dem Erzbezug aus Luxem-burg-Lothringen zum Mittelpunkte der deutschen Eisenindustrie. Auch in Oberschlesien entwickelte sich auf Grund des reichen Kohlenvorkommens ein selbständiges Produktionsgebiet. Ganz in den Hintergrund trat dagegen die altberühmte Eisenindustrie des Siegerlandes. In Deutschland entstand aber noch ein zweites grosses Zentrum, und zwar im lothringisch-luxemburgischen Erzrevier, welchem wieder die Kohle aus Rheinland-Westfalen und teilweise aus dem nahen Saar-Revier zugeführt werden muss. Das letztgenannte Revier hat sogar durch das neue Elektroverfahren einen Vorsprung erlangt. Wir sehen hier also einen gegenseitigen Austausch der Rohmaterialien zwischen Kohlenrevier und Erzrevier über Entfernungen von rund 400 km. Fast jedes Buch über die Eisenindustrie enthält die Feststellung, dass kein Land der Erde für die Eisenindustrie so günstige natürliche Vorbedingungen aufweist wie England, weil Kohle und Eisenerz beisammen liegen, und doch ist der Anteil Englands an der Weltproduktion in Roheisen von 55,25% im Jahre 1871 bis auf 16% im Jahre 1910 zurückgegangen. Heute entscheidet eben nicht das natürliche Vorkommen der Rohstoffe über den Standort, sondern der nach der Frachtlage zur Verfügung stehende Markt. Im westdeutschen Industriegebiet haben die Eisenbahnen, der Rhein und der Dortmund-Ems-Kanal eine

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 389. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/405&oldid=- (Version vom 29.10.2021)