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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

Jahre 1907 vorgelegten Entwurf eines Arbeitskammergesetzes, der in dieser Beziehung vom Reichstag in zweiter Lesung angenommen wurde, wurde als Aufgabe der Arbeitskammern die Mitwirkung bei der Vereinbarung von Tarifverträgen bezeichnet. Am 25. 2. 1908 wurde vom Staatssekretär des Reichsjustizamts eine baldige Regelung des Tarifvertragsrechts für dringend erwünscht erklärt, wie auch der 29. deutsche Juristentag in demselben Jahre die Notwendigkeit der gesetzlichen Regelung anerkannt hat.[1] Später ist die Reichsregierung aber offenbar von der Annahme der Dringlichkeit wieder abgekommen. Grade die Rechtsprechung der jüngsten Zeit, die zum Teil wieder an der Rechtswirksamkeit der Tarifverträge irre zu werden anfängt und die heillose Unklarheit einzelner Praktiker der Tarifbewegung erheischt jetzt notwendig ein Eingreifen der Gesetzgeber, da die Tarifbewegung sonst gerade in dem Augenblick auf abschüssige Bahnen zu geraten droht, an ihre Bedeutung allgemein anerkannt zu werden beginnt.

Die wirtschaftliche Bedeutung der Tarifverträge wurde bereits gestreift. Die Frage, ob die Tarifverträge für den Staat, die Unternehmer oder Arbeiter nützlich sind, muss gegenüber der Tatsache ihrer weiten Verbreitung zurücktreten. Sie füllen offenbar eine Lücke unseres bestehenden Rechts aus, indem sie die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitern dauernd und der Bedeutung jedes einzelnen Gewerbes entsprechend regeln. Welcher Teil bei dieser auf freier Übereinkunft beruhenden Regelung besser wegkommt, das hängt hauptsächlich von dem jeweiligen Machtverhältnis, aber auch von der Geschicklichkeit der beiderseitigen Parteivertreter ab. Eine lediglich individuelle Regelung der Arbeitsverhältnisse ist heute nicht mehr möglich. Darüber, dass die Festsetzung der Arbeitsbedingungen nicht den Arbeitgebern einseitig überlassen bleiben kann, ist kein Wort zu verlieren, aber auch der Staat ist bei uns nicht in der Lage, wie es auf abgeschlossenen und wenig entwickelten, dünn bevölkerten Wirtschaftsgebieten in Australien mit noch nicht sicher festgestelltem Erfolg geschehen ist, durch obrigkeitliche Festsetzung das im Interesse der Parteien Richtige zu treffen.[2] So ist die Vereinbarung zwischen grösseren Gruppen von Arbeitgebern und Arbeitern, wie sie in eine Reihe von Gewerben mit dauerndem Erfolg durchgeführt worden ist, der gegebene Weg für Regelung der Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitern.

Die Form, in welcher diese Vereinbarungen sich vollziehen oder vollzogen haben, führt uns zu der z. Z. wichtigsten Seite der Frage, der juristischen. Die Rechtswissenschaft ist nach anfänglichem Schwanken darüber einig geworden,[3] dass die Tarifverträge vollgiltige privatrechtliche Verträge sind und auch das Reichsgericht[4] hat sich jetzt zu dieser Auffassung bekannt. Im einzelnen Falle pflegen aber der Vertragsschliessung oft soviel Mängel anzuhaften, dass die Durchführung von Ansprüchen aus dem Tarifvertrag auf grosse Schwierigkeiten stösst. Verhältnismässig klar liegt der Regelfall der Tarifverträge, dass die Vertragsschliessenden der Arbeitgeberseite einzelne bestimmte Arbeitgeber oder ein Arbeitgeberverein, auf Arbeiterseite gleichfalls ein Verein, eine Gewerkschaft sind. Es kommen aber auch Fälle vor, bei denen der Vertragsschluss im Namen unorganisierter Massen erfolgt. Auch diese Verträge haben eine grosse wirtschaftliche Bedeutung, doch stehen in diesem Fall der Auffassung als wirksame privatrechtliche Verträge erhebliche Bedenken entgegen. Gegenstand der Tarifverträge ist die Herbeiführung eines Friedens oder Waffenstillstandes zwischen Arbeitgebern und Arbeitern für eine gewisse Zeit, das heisst die Unterlassung oder Einschränkung der modernen Lohnkämpfe, Streiks, Sperren, Boykotts u. dergl. sowie die Regelung bestehender und künftig zu begründender Arbeitsverhältnisse, wozu gewöhnlich noch einige hier nicht zu erörternde Nebenpunkte kommen. Die sogenannten General- oder Zentraltarifverträge ordnen die Arbeitsverhältnisse in wesentlichen Punkten nur mittelbar, indem sie die unmittelbare Regelung besonderen Tarifverträgen für kleinere Bezirke überlassen. Sie verpflichten die örtlichen oder Bezirksgruppen der vertragschliessenden zentralen,


  1. cf. Erklärungen im Reichstag vom 29. Januar 1909, 4. Januar 1910, 14. März 1911; 21. 1. 1914.
  2. Der jetzt (1912) in England gemachte Versuch eines Mindestlohngesetzes stellt nur das Prinzip auf das Mindestlöhne gezahlt werden müssen, ohne deren Höhe festzusetzen.
  3. Verhandlungen des 29. deutschen Juristentages, Berlin J. Guttentag, 1908/09, Bd. I–V; vergl. die Verhandlungen des Verbandstages der deutschen Gewerbe- u. Kaufmannsgerichte im Jahre 1910 in der Verbandsschrift des „Gewerbe- u Kaufmannsgerichts“.
  4. Urteil des VI. Zivilsenats vom 20. 1. 1910.
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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 24. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/40&oldid=- (Version vom 6.11.2021)