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 Aber daß Kaiphas, der das Gesetz kannte, daß die Jünger, die Jesum so lange bei sich gehabt und dann verlassen hatten, daß Petrus, der vom Herrn zum Felsengrund ernannt worden war und ihn verleugnet hat, daß vollends Judas, der vom Herrn erworben war und ihn verraten hat, nicht wissen sollen, was sie tun, das leuchtet uns nicht ein. Aber er sagt es. Und das ist das große Erdenweh des Herrn, daß er keine andere Entschuldigung hat als die trauervolle: „Sie wissen nicht, was sie tun.“ Es ist die Entschuldigung mit der Stumpfheit des natürlichen Menschen, eine Entschuldigung, die im Munde des hochgelobten Heilandes wie ein Gruß bitteren Erbarmens mit der Macht der Sünde und mit der Gewalt der Finsternis sich ausnimmt.

 Seht, so hat er sich ins Erdenweh und in das Leid der uns blendenden Sünde und in den Schrecken der uns bannenden Alltäglichkeit hineinempfunden, daß er am Kreuzesstamm, da er sich anschickt, die Welt zu erlösen, von der Unwissenheit und ihrer schreckhaften Gewalt redet: „Sie wissen nicht, was sie tun.“ Es ist die Stumpfheit der einen und die Trägheit der anderen und die Schläfrigkeit der Jünger und die Gewöhnung an das Große, das durch die Gewöhnung gemein wird. „Sie wissen nicht, was sie tun.“ Die einen sind zu lange in die Tiefe gegangen, als daß sie die Höhe verstünden, und die anderen hatten zu lange auf den Höhen geweilt, als daß sie die Tiefen noch begriffen; die einen sind zu lange unter dem Gewölke der Finsternis gestanden, als daß sie ihr sich noch entnehmen könnten, und die anderen sind so lange unter dem Einfluß des Lichtes gewesen, daß sie dasselbe nicht mehr nach Würde und Gebühr schätzen.

 „Sie wissen nicht, was sie tun“ – das ist das Erdenweh des Herrn. So viel hat er erreicht, daß der Aufenthalt

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Hermann von Bezzel: Die sieben Worte Jesu am Kreuz. Müller & Fröhlich, München 1918, Seite 12. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_von_Bezzel_-_Die_sieben_Worte_Jesu_am_Kreuz.pdf/14&oldid=- (Version vom 1.8.2018)