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Wir wollen reden von des Menschensohnes Ohnmacht in drei ganz einfachen Worten:

Er hat nur ein fremdes Wort für seinen Schmerz,
er hat nur einen Blick in Gottes Herz,
und all sein Denken, das glitt höllenwärts.

 Er hat nur ein fremdes Wort für seinen Schmerz. Wenn es dir bange ist, dann gibt dir der Schmerz die Worte, und wenn du krank bist, weißt du selbst die Rede, die deiner Krankheit würdig Bild ist. Und den meisten Menschen ist es eine Freude, mit selbstgewählten und wohlgesetzten Worten die Krankheit und das Leid zu schildern, das sie bedrückt. Es ist, als ob sie sich’s einmal vom Herzen reden müßten; es ist, als ob man es sich so erleichterte, wenn man sagt, was und wie man leidet. Und Gott gibt die Tränen, damit man es sich leichter macht, und die Worte, damit man sich Trost zuspricht. Aber der Menschensohn, den die Sünde der Welt beschwert, hat kein Wort mehr für seinen Schmerz. Es haben ihm Menschen Worte leihen wollen: „Euch sage ich allen, die ihr vorübergehet: Schauet doch und sehet, ob irgendein Schmerz sei wie mein Schmerz, der mich getroffen hat“ (Klag. 1, 12). Es hat der große, alttestamentliche Prophet in einer wunderbaren Sympathie des Leidens die Worte ihm vorbereitet, sie ihm dargeboten, aus Dankbarkeit vorahnender Freude sie ihm dargereicht. Es ist, als ob der große Prophet den Königsmantel ausgezogen und das Bettlergewand angelegt hätte: Nimm meine Worte! Wähle meine Rede! Vielleicht ist aus meinem Leid dir etwas diensam und aus der Kunde meines Schmerzes dir etwas brauchbar. Er aber sucht nach Worten und findet sie nimmer. Er will es der Welt sagen, was er leidet, nicht damit man mit ihm leide, sondern damit man für ihn bete. Er will es uns gestehen, welch eine Gewalt die Sünde hat,

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Hermann von Bezzel: Die sieben Worte Jesu am Kreuz. Müller & Fröhlich, München 1918, Seite 59. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_von_Bezzel_-_Die_sieben_Worte_Jesu_am_Kreuz.pdf/61&oldid=- (Version vom 1.8.2018)