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Sie gingen über den halbdunklen Hof. Unter einer Laterne hing die Tafel mit der Aufschrift: „Arbeitsvermittlung.“ Daneben die Thür. Sie kamen in einen Vorraum, auf den mehrere Zimmer mündeten. Auf angeschlagenen Zetteln stand: „Speisesaal“, „Lesesaal“, „Kanzlei“. Da sich bei ihrem Eintritte eine Glocke gerührt hatte, eilte ein junger Mensch aus dem Speisesaal ihnen entgegen, und sie konnten durch die secundenlang offene Thür einen langen Tisch erblicken, an dem ärmlich gekleidete Menschen in bescheidener Haltung saßen und eine Mahlzeit genossen.

„Ein wunderbarer Gedanke!“ sagte der Millionär, „er hat uns in die Volksküche geführt. Bekommen wir wenigstens ein Cabinet particulier?“

„Natürlich,“ lachte Wilhelm. „Uebrigens seid ihr nicht in der Volksküche, sondern bei mir.“

Excellenz unterdrückte eine Bemerkung und bedauerte nur innerlich, daß er in seiner Jugend nicht wählerischer im Umgange gewesen sei. In der Kanzlei war ein Tisch für vier Personen sauber und recht arm gedeckt. An den Wänden hingen Landkarten und graphische Darstellungen. In einem Glaskasten befanden sich verschiedene Modelle für technologischen Unterricht. Man sah auch in ein zweites Kämmerchen hinein, in welchem nur ein eisernes Bett, ein Waschtisch und ein Schrank standen.

„Da wohne ich,“ sagte Wilhelm. „Ich nahm an, daß ihr mir folgen würdet, und ließ uns ein Abendbrot bereiten. Euch wird es wohl ein bißchen kümmerlich vorkommen, aber für dieses Haus ist es eine große Schwelgerei. Ich möchte gar nicht, daß meine Schützlinge drüben darum wüßten. Bier darf man hier überhaupt nicht trinken, Wein bekommen nur die Kränklichen oder vom Hunger Geschwächten.“

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Theodor Herzl: Philosophische Erzählungen. Gebrüder Paetel, Berlin 1900, Seite 142. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Herzl_Philosophische_Erzaehlungen.djvu/147&oldid=- (Version vom 1.8.2018)