Wie es gekommen ist, kann ich aber nicht verstehen. Ich bin wohl zu dumm dazu. Ich habe nur sagen hören, daß er über seine Kraft gegangen sei. Seine Unternehmungen waren zu ausgedehnt, seine Kühnheit zu groß, seine Mithelfer zu schwach oder zu treulos. Als das Geschäft so groß wurde, daß nicht einmal er alles überblicken konnte, fing man an, schlecht zu wirthschaften. Die Filialen versagten, die Kommis wurden unaufmerksam, und unser Chef muthete seinem Kredit immer mehr zu.“
„Die Größe ist die Ursache des Verfalles,“ sagte Herr Godefroy.
„Ach, mein lieber Herr,“ schloß der Wirth seine Erzählung; „Sie können sich nicht denken, wie uns kleinen Leuten das Herz blutete, als er zu Grunde ging. Die Großen, die durch ihn viel gewonnen hatten, verschmerzten es leicht. Aber wir, wir nicht. Der Zusammenbruch ist mir jetzt nur noch ein Traum, wie es der Aufbau war. Liegengebliebene Waaren, wachsende Schulden, es war ein Taumel von Verlegenheiten. Und er kämpfte bis zur letzten Minute, suchte nach immer neuen Auswegen, schmiedete immer colossalere Pläne, um unser Magazin zu retten – bis ihm die Gläubiger auf den Hals rückten. Mit seinem Kredit ist das ganze Haus niedergebrochen. Die Leute nennen das einen Concurs, aber mir ist das Wort zu schlecht für meinen alten General von Toulon, wenn er auch nur ein zweifelhafter General war und jetzt kümmerlich von der Hand in den Mund lebt. Manchmal kommt er Abends her und läßt sich nur ein Stückchen Käse geben, weil er nicht genug Geld hat, um eine Fleischspeise zu bezahlen. Dann sagt er, er habe keinen Appetit. Er würde mich ohrfeigen, wenn ich ihm unentgeltlich etwas vorsetzen wollte.“
Theodor Herzl: Philosophische Erzählungen. Gebrüder Paetel, Berlin 1900, Seite 230. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Herzl_Philosophische_Erzaehlungen.djvu/235&oldid=- (Version vom 1.8.2018)