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daß die Kunst der Wissenschaft vorauszugehen pflegt; hier haben wir ein Beispiel davon. Die künstlerisch-praktische Kenntnis der Gefühle war längst vorhanden, ehe ihre wissenschaftliche Untersuchung begonnen hat. So hätte auch Goethe wahrscheinlich selbst die inzwischen entwickelte Psychologie der Gefühle von heute ziemlich trivial und kindisch gefunden, da ihm dieselben Sachen viel mannigfaltiger und feiner bekannt und geläufig waren. Es scheint daher, als sei schließlich die Wissenschaft ganz überflüssig in all den Fällen, wo die Kunst die Vorarbeit übernommen hat.

Sie wäre es allerdings, wenn, nachdem die Menschheit einen solchen Genius wie Goethe hervorgebracht hätte, alle nachgeborenen Menschen seiner Vorzüge teilhaftig geworden wären. Wir wissen leider nur zu genau, daß dies keineswegs der Fall ist. Daher sind auch die sehr weitgehenden psychologischen Kenntnisse, die Goethe besaß, sein persönliches Eigentum geblieben und mit ihm dahingegangen. Seine Werke enthalten nur die Ergebnisse der Anwendung seiner Kenntnisse auf besondere Fälle, nicht aber diese Kenntnisse selbst. Mit der Wissenschaft ist es anders. Deren Aufgabe betrachen wir nicht als vollendet, wenn nicht der Entdecker auch die Ergebnisse seiner Forschung der Welt in einer solchen Gestalt mitgeteilt hat, daß sie Gemeingut

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Wilhelm Ostwald: Kunst und Wissenschaft. Verlag von Veit und Comp., Leipzig 1905, Seite 29. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kunst_und_Wissenschaft.pdf/35&oldid=- (Version vom 1.8.2018)