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sehnte sich sehr nach der Frau, wie nach der Freiheit. Sechs Ritter mußten den Grafen tagtäglich bewachen, und es drang zu ihm die Kunde, er solle ob seines Pfalzgrafenmordes hingerichtet werden. Da stellete er sich krank, bestellte sein Seelgeräthe und sein Haus, sandte durch einen erbetenen Schreiber seiner Gemahlin Botschaft, machte sein Testament, zog sein Sterbehemde an, und hüllte sich, da er starken Frost klagte, in viele Mäntel, und war so matt, daß er an einem Stabe ging, und ächzte, und legte sich in das offene Bogenfenster seines Thurmgemaches, das steil über der Saale hing, und sonnte und sömmerte sich, während seine Wächter sich mit dem Bretspiel die Langeweile solcher Gefangenwacht vertrieben. Und wie der Graf sahe, daß ausgeführt ward, was er heimlich befohlen, daß sein Diener unten am Saalstrome hielt und sein weißes Leibroß, der Schwan genannt, gleichsam wie zur Schwemme, in die Saale ritt, auch zwei Fischernachen auf dem Strome fuhren, da wünschte er seinen Wächtern alles Liebes und Gutes, schnellte sich aus dem offenen Thurmfenster auf den Vorsprung der Felsklippe, schrie: Jungfrau Maria, hilf Deinem Knechte! und sprang von der Klippe in den damals dicht unter ihr vorbeiziehenden Saalstrom; die Mäntel schirmten ihn im Fall, er fiel nicht hart in das Wasser, die Nachen waren zu seiner Hülfe zur Stelle, dann bestieg Ludwig den Schwan, gelobte dem heiligen Ulrich zu Sangerhausen, wohin er den eiligen Fluchtritt lenkte, eine schöne Kirche, und kam glücklich und wohlbehalten alldorten an, während seine bestürzten Wächter auf Burg Giebichenstein im recht eigentlichen Sinne des Wortes „das Nachsehen“ hatten.

Empfohlene Zitierweise:
Ludwig Bechstein: Thüringer Sagenbuch. Zweiter Band. C. A. Hartlebens Verlags-Expedition, Wien und Leipzig 1858, Seite 248. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ludwig_Bechstein_-_Th%C3%BCringer_Sagenbuch_-_Zweiter_Band.pdf/250&oldid=- (Version vom 1.8.2018)