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der unsterblichen Gedichte Ilias und Odyssee so lebendig, daß das Verlangen rege wurde, dieselben mit Augen zu erschauen. Als einem Meister der Magie, welche Kunst man sich nicht als eine niedrige Taschenspielerei zu denken hat, sondern die als sogenannte „dunkle Philosophie“ auf den Hochschulen zu Krakau, Warschau, Prag, Padua, Bologna, Salamanca und auch auf deutschen Universitäten gelehrt wurde, war es dem in allen damals bekannten Künsten der Physik bewanderten Faust leicht möglich, die Schattenbilder griechischer Helden leibhaftig vor Augen zu stellen, und zuletzt ließ er den gräulichen Riesen Polyphem auftreten, vor dessen übergewaltiger Erscheinung das ganze Auditorium bebte.

Faust hielt gute Kumpaneischaft mit studirenden adeligen Junkern, die Geld hatten, und trieb viele und mancherlei Kurzweil zu ihrer und des Volkes Belustigung. Durch das engste Gäßchen Erfurts, dergleichen man nur noch in Venedig sieht, fuhr er mit einem zweispännigen Fuder Heu, wodurch dieses Gäßchen für alle Zeiten den Namen „Doctor Fausts Gäßchen“ erhielt. Einst kam Faust auf einem Pferde geritten, das fort und fort fraß und nicht zu ersättigen war, ein anderesmal zapfte er allerlei Weine aus einem hölzernen Tische oder gaukelte den trunkenen Zechgesellen Trauben vor, die sie abschneiden wollten; als Faust aber die Blendung schwinden ließ, hatte einer des andern Nase statt der Weintraube in den Fingern. Ein Haus in der Schlössergasse soll oben im Dache immer noch eine Oeffnung haben, die nie mit Ziegeln zugelegt werden kann, weil Faust durch dieselbe seine Mantelfahrten zu richten pflegte. Einen herrlichen Wintergarten soll er nebst kostbarer Bewirthung zahlreicher vornehmer Gäste

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Ludwig Bechstein: Thüringer Sagenbuch. Zweiter Band. C. A. Hartlebens Verlags-Expedition, Wien und Leipzig 1858, Seite 316. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ludwig_Bechstein_-_Th%C3%BCringer_Sagenbuch_-_Zweiter_Band.pdf/318&oldid=- (Version vom 1.8.2018)