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Wilhelm Ludwig Lehmann: Professor Ernst Gladbach. In: Neujahrsblatt der Kunstgesellschaft in Zürich für 1898

Schweiz es zu einem völlig ausgebildeten eigenen Stile gebracht hat. Auf längeren Studienreisen in den Herbstferien ging er den einzelnen Richtungen nach und brachte Mappen voll der schönsten Aufnahmen und Skizzen mit nach Hause. Die ersten grossen Blätter zeichnete er nur für sein Colleg, doch wurden sie durch Freunde dem Darmstädter Verleger Köhler zugesandt, der sich zur Herausgabe eines Werkes über den Schweizer Holzstil entschloss. (Die beiden vorgedruckten Kunstbeilagen sind diesem Werke entnommen und von dem jetzigen Verleger, Herrn Cäsar Schmidt, bereitwilligst zur Reproduktion überlassen worden). Mit der grössten Selbstlosigkeit gab sich Gladbach dieser Arbeit hin, denn die Bezahlung war geradezu kläglich im Verhältnis zu seiner hervorragenden Leistung. Aber die Arbeitsfreude war um so grösser, und so gelang es ihm, ein Werk zu schaffen, das seinen Namen für immer in der Geschichte der Architektur erhalten wird. Zu gleicher Zeit leistete er aber auch seinem zweiten Vaterlande, der Schweiz, einen nicht hoch genug anzuschlagenden Dienst, dass er diese Holzbauten der Nachwelt überlieferte; mehr als die Hälfte der schönen Bauten ist schon jetzt vom Erdboden verschwunden, und auch die andern werden über kurz oder lang dem alles verzehrenden Feuer erliegen müssen.

Von früheren Publikationen über das gleiche Thema war nicht viel vorhanden; einzig die Holzbauten des Berner Oberlandes waren in Aufnahmen veröffentlicht worden. Gladbach hat das Verdienst, das ganze reiche Gebiet des Schweizer Holzbaues zuerst erforscht, die einzelnen Richtungen unterschieden und in typischen Beispielen wiedergegeben zu haben. Er findet die älteste Weise des Blockverbandes in Uri und Schwyz, wo sich noch spät mittelalterliche Formen daran erhalten haben. Die Blockhäuser von Unterwalden und Luzern nähern sich schon mehr den Bernern, in denen sich der Blockverband zu reichster Blüte entfaltet hat. Die Blockhäuser von Zürich, Zug und St. Gallen zeigen mit ihren hohen, steilen Schuppendächern schon einen entschieden andern Charakter, welchem sich der von Appenzell anschliesst. In den Kantonen Thurgau und Aargau und im Flachlande von Zürich und St. Gallen wird der Blockbau zum Teil verlassen und an seine Stelle ein abgespreiztes und verstrebtes Ständerwerk mit eingeschobener Bohlenwand gesetzt. Daneben tritt das mit Steinen ausgemauerte Fachwerk mehr und mehr auf, wobei aber die Holzverbindungen noch stets in sorgfältigster Weise ausgeführt sind. Einen andern Gebäudetypus findet er in Solothurn, Oberaargau und Emmental, wo Viehzucht und Ackerbau verbunden sind und Menschen und Vieh unter einem weiten Dache wohnen, das den Hauptteil des Gebäudes ausmacht und von Alters her mit Stroh gedeckt war. – Endlich zeigen die Wohnhäuser des Ober- und Unterengadin sowie des Albulatales eine höchst interessante Bauart, indem sich hier

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Wilhelm Ludwig Lehmann: Professor Ernst Gladbach. In: Neujahrsblatt der Kunstgesellschaft in Zürich für 1898. Zürich 1898, Seite 15. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Neujahrsblatt_der_Kunstgesellschaft_in_Z%C3%BCrich_f%C3%BCr_1898.pdf/15&oldid=- (Version vom 1.8.2018)