Statthalters Varus hervor; dieser hat nämlich die Forderungen des Procurators Sabinus, der auf die Kunde vom Tode Herodes’ I. sozusagen als römischer Ministerresident zur Kontrolle hingesandt worden war, als zu weitgehend sistiert: der jüdische Staatsschatz und die Festungen sollten vorläufig nicht mit Beschlag belegt werden (Joseph. bell. Iud. II 16f.; ant. Iud. XVII 221f. Eine besonders enge Verbindung des Varus mit Archelaos darf nicht allein als Grund des Vorgehens des Statthalters angenommen werden; s. bell. Iud. II 80; ant. Iud. XVII 300).
Archelaos hat zunächst den Versuch gemacht, das jüdische Volk für sich zu gewinnen; dies schien ihm in Anbetracht der Unsicherheit seiner noch nicht bestätigten Stellung besonders wichtig. Vor einer großen Volksversammlung im Tempel zu Jerusalem versprach er die Abstellung der Unbilden des bisherigen Regiments, vor allem Abgabenerleichterung und eine Amnestie (Joseph. bell. Iud. II 1–4; ant. Iud. XVII 200–205). Durch die Nachgiebigkeit ermutigt, hat dann das Volk, das noch über die erst vor kurzem von Herodes I. verfügte Hinrichtung der Schriftgelehrten Juda und Matthia (s. S. 147) aufs höchste erregt war, weitere Forderungen gestellt, und zwar Absetzung des soeben von Herodes I. eingesetzten mißliebigen Hohenpriesters und Bestrafung der Räte des verstorbenen Königs, überhaupt die Beseitigung des hellenistischen Elementes am Königshofe (s. speziell Nikol. Damasc. frg. 5 [FHG III 353]). Es hat also auch das kulturelle Moment, das jüdische Nationalgefühl, auf die damaligen Vorgänge bestimmend eingewirkt.
Archelaos, der seine Autorität durch weitere Bewilligungen aufs Spiel gesetzt hätte, hat zunächst noch versucht, das Volk durch Verhandlungen von seinem Verlangen abzubringen; er kommt den Juden also sehr weit entgegen. Auch als das Verhalten des Volkes bereits den Charakter des Aufstandes annahm, der infolge der zum bevorstehenden Passafeste in Jerusalem zusammenströmenden Volksmengen besonders gefährlich werden konnte, ist er anfangs mit Zwangsmaßregeln nur zögernd vorgegangen und hat erst, als die Gefahr zu handgreiflich wurde, sich mit seinen Truppen gegen die Volksmassen gewandt, nun aber auch mit aller Energie; der Aufruhr ist in Blut erstickt worden (Joseph. bell. Iud. II 5–13. 30; ant. Iud. XVII 206–218. 237. Nikol. Damasc. a. a. O.). Die Juden haben damals dieses Vorgehen des Archelaos gegen sie herausgefordert; irgendwelche Schuld an dem Blutbade scheint ihn nicht zu treffen (sehr wichtig für das Urteil ist das Zugeständnis in der einen Anklagerede gegen Archelaos vor Augustus, Joseph. ant. Iud. XVII 231: ὧν καὶ ἀδικούντων).
Nach der Niederwerfung des Aufstandes hat sich Archelaos eilends nach Rom begeben, um dort die Anerkennung als König zu erlangen. Die durch den Volksaufstand schon an und für sich bedenkliche Situation des neuen Regiments begann sich jedoch immer bedenklicher zu gestalten; denn sein Bruder Antipas erhob gleichfalls Ansprüche auf die βασιλεία und wollte sich auf Verhandlungen nicht einlassen. Auch dieser ist nach Rom aufgebrochen, um die Entscheidung des Augustus anzurufen [168] (s. S. 175ff.). Es war ein Glück für Archelaos, daß der Reichskanzler Ptolemaios (s. S. 63) und Nikolaos von Damaskos unbedingt auf seiner Seite standen, der letztere von großer Wichtigkeit infolge seiner intimen Kenntnisse der römischen Verhältnisse und durch seine diplomatische Redegabe. Auch sein Bruder Philippos stand treu zu ihm; ihn ließ Archelaos als Reichsverweser zurück, und dieser hat ihn dann auch später in Rom unterstützt (Joseph. bell. Iud. II 83; ant. Iud. XVII 303. Keim S. 39 urteilt nicht richtig, wenn er auch Philippos als Prätendenten gegen Archelaos bewertet). Ebenso schien die alte Heuchlerin, Archelaos’ Tante Salome, mit ihrem Anhang anfangs seine Sache unterstützen zu wollen; sie reiste mit ihm nach Rom, um sich dort, ebenso wie die anderen συγγενεῖς, allerdings sofort von ihm abzuwenden und ihre eigenen selbstsüchtigen Pläne zu verfolgen, welche unter Zerstückelung des Reiches auf die Begründung eigener kleiner Herrschaften hinausliefen (Joseph. bell. Iud. II 14–22; ant. Iud. XVII 219–227. Nikol. Damasc. a. a. O.). Gegen Archelaos versuchte in Rom außer den eigenen Verwandten schließlich auch das jüdische Volk zu wirken. So erschienen bald nach seiner Ankunft 50 jüdische Gesandte in der römischen Hauptstadt (Joseph. bell. Iud. II 80; die Entsendung ist noch vor dem neuen Aufstande der Juden erfolgt. Nikol. Damasc. frg. 5 [FHG III 354]. Ewald IV³ 592. Keim 39 u. a. setzen fälschlich die Entsendung erst nach dem Aufstande – durch die Anordnung des Josephus bewogen –, was zu falschen allgemeinen Urteilen und zu falscher Chronologie führen muß). Man wollte gegen alle Herodeer als Herren protestieren und um die direkte Unterordnung unter das römische Regiment bitten; man erstrebte eben die Abschaffung der einheimischen weltlichen Herrschaft und wollte anstatt ihrer offenbar nur ein geistliches jüdisches Regiment, d. h. man hat hier pharisäische Tendenzen vor sich. Sowohl diese jüdische Partei als die der Salome waren im Notfall, wenn ihre eigenen Wünsche unerfüllbar erschienen, bereit, für Antipas gegen Archelaos einzutreten (Joseph. bell. Iud. II 22; ant. Iud. XVII 277. Nikol. Damasc. a. e. a. O.). Man darf dies wohl dadurch erklären, daß man von Archelaos ein strengeres Regiment als von Antipas befürchtete, ein Regiment, das die eigenen Wünsche ganz zunichte machen würde, und darf es nicht auf irgendwelche Urteile über die Moral der beiden Brüder oder über ihre mangelhafte Regentenfähigkeit zurückführen (Joseph. ant. Iud. XVII 227: λυσιτελέστερον Ἀρχελάου τὸν Ἀντιπᾶν λογιζόμενοι). Schließlich sind auch, um die ganze Situation für Archelaos noch weiter zu erschweren, Gesandte der zu Herodes’ I. Reich gehörenden griechischen Stadtgemeinden nach Rom gekommen, welche Befreiung von der jüdischen Herrschaft und Eingliederung in das römische Provinzialregiment forderten (Nikol. Damasc. a. e. a. O.); ob es sich hierbei nur um die Städte Gaza, Gadara und Hippos handelt, die Augustus bei seiner Entscheidung der jüdischen Erbschaftsangelegenheit tatsächlich unter die unmittelbare Oberhoheit Roms gestellt hat (Joseph. bell. Iud. II 97; ant. Iud. XVII 320), oder ob noch weitere Städte um Autonomie, wenn auch erfolglos, gebeten haben,
Walter Otto: Herodes. Beiträge zur Geschichte des letzten jüdischen Königshauses. Metzler, Stuttgart 1913, Seite 167–168. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Herodes.djvu/104&oldid=- (Version vom 1.8.2018)