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Philon: Ueber Abraham (De Abrahamo) übersetzt von Joseph Cohn

Auch Weiber, deren Männer gestorben, stürzten sich freudig in denselben Scheiterhaufen und liessen sich lebend mit den Leichnamen jener verbrennen[1]. 183 Diese, die in hohem Masse den Tod geringschätzen und nach ihm verlangen wie nach Unsterblichkeit und ihm entgegenrennen, könne man wirklich wegen ihres Wagemutes bewundern. [34] Weshalb also sollte man jenen (Abraham) preisen, als ob er eine völlig neue Tat zuerst vollbracht hätte, da doch sowohl gewöhnliche Leute als auch Könige und ganze Völker sie zu Zeiten vollbringen? 184 Auf solchen scharfen Tadel habe ich folgendes zu erwidern. Von denen, die ihre Kinder opfern, tun es die einen auf Grund einer bestehenden Sitte, wie man es von einigen Barbaren sagt, die anderen aus unangenehmen und wichtigen Gründen, wenn Staaten und Länder glauben auf andere Weise sich nicht helfen zu können; einige von diesen geben ihre Kinder notgedrungen hin, weil sie von den Mächtigen dazu gezwungen werden, andere weil sie nach Ruhm und Ehre und nach einem guten Namen bei der Mit- und Nachwelt streben. 185 Die Menschen nun, die auf Grund einer Sitte opfern, tun augenscheinlich nichts Grosses; denn eine eingewurzelte Sitte ist oft einer Naturanlage gleich, so dass sie selbst Unerträgliches leicht ertragen lässt und auch ein Uebermass von Schrecklichem mildert. 186 Jene aber, die aus Furcht (ihre Kinder) hingeben, verdienen kein Lob; denn Lob gebührt nur freiwilliger Pflichterfüllung, was aber ungern geschieht, wird anderen Ursachen zugeschrieben, entweder gewissen Zeitumständen oder Zufälligkeiten oder von Menschen ausgeübtem Zwang. 187 Wenn aber jemand aus Ruhmsucht einen Sohn oder eine Tochter hingibt, so darf er wohl mit Recht eher getadelt als gelobt werden, da er mit dem Tode der von ihm am meisten Geliebten Ehre erkaufen will, die er vielmehr, wenn er sie besitzt, zum Heile seiner Kinder preisgeben müsste. 188 Zu untersuchen wäre also, ob Abraham durch irgend eine der genannten Ursachen bewogen seinen Sohn opfern wollte, ob einem Brauche zufolge oder aus Ehrgeiz oder aus Furcht. Einen Brauch, Kinder zu opfern, kennt Babylon und Mesopotamien und das Chaldäervolk nicht,

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Philon: Ueber Abraham (De Abrahamo) übersetzt von Joseph Cohn. H. & M. Marcus, Breslau 1909, Seite 134. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloAbrGermanCohn.djvu/44&oldid=- (Version vom 11.5.2019)
  1. Die indische Sitte der Witwenverbrennung war zu Philos Zeit aus den Berichten des Megasthenes und anderer griechischer Historiker bekannt.