Philon: Über die Verwirrung der Sprachen (De confusione linguarum) übersetzt von Edmund Stein | |
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des Himmels Ströme der Schlechtigkeit selbst unter gewaltigem Anprall hernieder, und aus den Quellen der „Erde“, ich meine des Leibes,[1] ergießen sich viele große Bäche[2] jeglichen Lasters, welche mit den ersten zusammenkommen, vereinigen sich, brausen durcheinander und umtosen den ganzen überfluteten Kreis der Seele mit anhaltendem Wirbel[3]. 24 Denn es heißt: „Es sah Gott, der Herr, daß sich mehrten die Laster der Menschen auf der Erde, und ein jeder in seinem Herzen[4] geflissentlich Böses sinnt alle Tage“ (1 Mos. 6, 5), da beschloß er, den Menschen, ich meine den Geist,[5] zusammen mit den Schlangen, Vögeln und der übrigen Menge der vernunftlosen, ungezähmten Tiere,[6] welche ihn umgeben, ob des Unheils, das er angestiftet hat, zu bestrafen.[7] Die Strafe aber ist die Sintflut. 25 Diese bestand nämlich in der Loslassung der Laster und dem heftigen Drang zum Freveln, wobei es keinen Widerstand gab, im Gegenteil: alle ließen sich unbekümmert hinreißen zur ergiebigen Dienstleistung für diejenigen, welche dem Genuß nur zu willig sind. Und sehr natürlich; denn nicht nur ein Teil der Seele war verdorben, also daß er durch die anderen gesunden die Genesung hätte erlangen können, sondern nichts blieb in ihr unkrankhaft und unversehrt. [409 M.] Denn es heißt ja: „Als er sah, daß ein jeder sinnt nach“, nämlich eine jede Geisteskraft[8] nicht nur eine, da verhängte der unbestechliche
- ↑ Zur Allegorie Erde – Sinnlichkeit vgl. Alleg. Erkl. I § 1. Dementsprechend ist unter dem Öffnen der Schleusen des Himmels die § 21 geschilderte Verstandesstörung zu begreifen.
- ↑ „... an diesem Tage brachen hervor alle Quellen der großen Tiefe und die Schleusen des Himmels taten sich auf“ (1. Mos. 7, 11). Die alleg. Deutung dieses Bibelverses Quaest. in Gen. II § 18.
- ↑ Zur alleg. Deutung der Sintflut als der Auflösung des geistigen Lebens vgl. Quaest. in Gen. II § 15.
- ↑ Die LXX liest וכל (וכל איש־) יוצר מחשבות בלבו.
- ↑ Bei Philo hat ἄνθρωπος (wie im Midrasch איש) einen auszeichnenden Sinn, vgl. Über Abr. § 32ff. u. Anm. zu § 33. Zum Gemeinplatz ἄνθρωπος – νοῦς in der griechischen Philosophie s. Anm. zu Über die Nachstellungen § 10.
- ↑ Tiere als Sinnbilder der Affekte kennt auch die griechische Allegoristik. Vgl. Cornutus Theol. 33; s: auch Alleg. Erkl. II § 11, III § 113.
- ↑ Die Worte: da beschloß er – angestiftet hat, bilden eine Umschreibung von 1 Mos. 5, 7. Von einer wörtlichen Anführung des biblischen Textes wird hier abgesehen, um der heiklen Frage von der Reue Gottes aus dem Wege zu gehen. Vgl. dazu Über die Unveränderlichkeit Gottes § 275ff.
- ↑ Ich behalte das zweite πᾶς und lese mit den Hss. ἰδὼν γὰρ, ὅτι πᾶς τις, φησί, διανοεῖται, πᾶς λογισμός κτλ.
Philon: Über die Verwirrung der Sprachen (De confusione linguarum) übersetzt von Edmund Stein. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 108. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloConfGermanStein.djvu/010&oldid=- (Version vom 1.8.2018)