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Philon: Über die Trunkenheit (De ebrietate) übersetzt von Maximilian Adler

Natur nach miteinander im Widerstreit liegen, Gott, wie ein altes Wort besagt,[1] an einem Ende festgebunden hat, aber die Empfindung der beiden nicht im selben Augenblicke, sondern in unterschiedlichen Zeiten im Inneren der Menschenbrust hervorruft, indem er mit dem Entweichen des einen Gefühls dem entgegengesetzten den Einzug bestimmt, so schießen auch aus einer Wurzel, dem leitenden Seelenteile,[2] die beiden Reiser[3] der Tugend und der Schlechtigkeit auf, die gleichzeitig weder keimen, noch Früchte tragen; 9 denn wann das eine das Laub verliert und verdorrt, beginnt das entgegengesetzte aufzusprossen und zu grünen, so daß man annehmen muß, jedes werde verdrießlich über das Wohlergehen des anderen und schrumpfe darum zusammen. Aus diesem Grunde entspricht es ganz der Natur der Dinge, wenn (die hl. Schrift) den Ausgang Jakobs als Eingang Esaus[4] darstellt; sie sagt nämlich: „Und es geschah, kaum daß Jakob hinausgegangen war, war auch schon sein Bruder Esau da“ [5] (1 Mos. 27, 30); 10 denn solange in der Seele die Einsicht verweilt und umgeht, ist jeder Gefährte der Unvernunft[6] über die Grenze verjagt; wann sie sich aber von hinnen gehoben hat, kehrt jener froh zurück, weil die erbitterte Feindin, durch die er vertrieben und aus dem Lande gejagt wurde, nicht mehr denselben Platz bewohnt.


  1. Plato Phädon 60B.: ὥσπερ ἐκ μιᾶς κορυφῆς συνημμένω δύ᾽ ὄντε; aber nicht nur diese Redensart, sondern auch der Gegensatz und die Feindschaft des ἡδύ und λυπηρόν geht auf diese Stelle Platons zurück.
  2. Tugend und Laster sind nach stoischem Monismus Zustände des leitenden Seelenteiles: τὸ ἡγεμονικὸν διόλου τρεπόμενον καὶ μεταβάλλον κακίαν τε γίνεσθαι καὶ ἀρετήν StVF III 20. Dieses Umschlagen der Tugend ins Laster und umgekehrt, soll hier die Koexistenz der Gegensätze ausschließen.
  3. Das Bild erinnert zwar an Homer Ilias 18, 437; Odyssee 14, 175; aber die Vorstellung, die Tugend sei ein Gewächs der Seele, begegnet bei Philo öfter; z. B. Über d. Landwirtsch. § 18, 25.
  4. Der gleiche Gedanke findet sich in einem Fragment, dessen Platz bei Philo Tischendorf nicht bestimmen konnte (Philonea, S. 154 Nr. 9): Κακίας ἔξοδος ἀρετῆς εἴσοδον ἐργάζεται, ὡς καὶ τοὐναντίον ὑπεκστάντος ἀγαθοῖ τὸ ἐφεδρεῦον κακὸν εἰσέρχεται.
  5. Das ἦλθεν der LXX ändert Philo in ἧκεν, um die Schnelligkeit des Eintrittes Esaus auszudrücken; die Ablösung Jakobs durch ihn erfolgt unverzüglich.
  6. Jakob, ὁ ἀρετῆς ἀσκητής, ist im Gegensatze zu Esau als ἀφροσύνης ἀντίπαλος bezeichnet (Über Belohn. u. Straf. § 59), Esau ἄφρων (De congr. erud. gr. § 175), ἀφροσύνης ἐπώνυμος (Über d. Geburt Abels § 17) genannt und mit der ἀφροσύνη gleichgesetzt (Über d. Nüchternheit § 26). – In Verbindung mit der γυμνότης, wie hier, kommen beide Brüder Alleg. Erkl. II § 59 vor.
Empfohlene Zitierweise:
Philon: Über die Trunkenheit (De ebrietate) übersetzt von Maximilian Adler. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 11. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloEbrGermanAdler.djvu/011&oldid=- (Version vom 29.10.2017)