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Philon: Über die Trunkenheit (De ebrietate) übersetzt von Maximilian Adler

Seele zu locker ist, so daß sie unwillkürlich von der stärkeren Macht ihrer Widersacher erdrückt würden, sondern sie machen es so, wie die freiwilligen Sklaven, und werfen sich absichtlich unter das Joch bitterer Herren, wiewohl sie ihrer Abkunft nach Freie waren; da sie deshalb nicht (als Sklaven) verkauft werden können, kaufen sie sich selber – das ist der höchste Widersinn – Herren und schaffen sie sich an; damit tun sie dasselbe, wie diejenigen, die sich, um nur trunken zu sein, unmäßig mit Wein vollfüllen; 123 denn auch jene nehmen nach freiem Entschluß und nicht genötigt, den Rauschtrunk zu sich, so daß sie nach freiem Entschluß die Nüchternheit aus ihrer Seele schneiden und das besoffene Geschwätz vorziehen; denn es heißt: „Geschrei höre ich von Leuten, die ein Zechgelage beginnen,“ d. h. von Leuten, die nicht wider ihren Willen Wahnsinn in ihr Inneres aufgenommen haben, sondern die in selbstgewähltem Wahnwitz toben.[1] [32] 124 Jeder aber, der sich dem Lager nähert, „sieht das Kalb und die Reigentänze“ (2 Mos. 32, 19), wie auch er, (Moses), selbst es deutlich auseinandersetzt;[2] dem Hochmut nämlich und den Tänzern im Reigen des Hochmutes begegnen wir alle, die wir aus freiem Entschlusse beabsichtigen, dem Feldlager der Körperlichkeit nahezutreten; denn die Schaufreudigen und sich nach dem Anblicke der unkörperlichen Wesen Sehnenden pflegen, weil sie um die Demut ringen, sehr weit von der Körperlichkeit wegzusiedeln. 125 Bete also zu Gott, niemals ein Anführer zum Weingelage zu werden, d. i. mit Willen niemals auf dem Wege zu führen, der zur Zuchtlosigkeit und Unvernunft hinführt; denn die unfreiwilligen Übel sind nur halbe und leichter, da sie durch eine ehrliche Prüfung des Gewissens nicht belastet werden.[3] 126 Erfüllt sich aber dein Gebet, dann kannst du


  1. Diesen Sinn entwickelt Philo aus dem Begriffe ἐξάρχειν die Initiative ergreifen.
  2. Hier wendet sich der Schriftsteller der Erklärung des letzten im § 96 zitierten Bibelverses zu.
  3. Die pessimistische Ansicht Philos über die menschliche Mangelhaftigkeit und sein Glaube an die unvorstellbare Vollkommenheit Gottes führten ihn zu der Überzeugung, daß alle Menschen fehlen. Es ist ein besonderes und seltenes Geschenk Gottes, wenn ein Mensch durch längere Zeit Fehler vermeidet (Ü. d. Landwirtsch. 180). Aber damit das sittliche Streben und die Willensfreiheit nicht aufgehoben werden, macht Philo einen Unterschied zwischen freiwilligen und unfreiwilligen Vergehen; das Kriterium ist die γνώμη, das Bewußtsein und die Absicht des Menschen, zu sündigen. Ob diese vorhanden war, entscheidet als Richter das Gewissen (Ü. d. Unveränderl. Gottes 128). Unfreiwillige Fehler, denen die Menschen WS: Die auf der nächsten Seite fortgesetzte Anmerkung wurde hier vervollständigt kaum entgehen können, sind daher nur halbe und leichte Sünden (Ü. d. Nachkomm. Kains 10; Quaest. in Gen. IV 65). – Durch diese Theorie setzt sich Philo, wie Bréhier² a. a. O. S. 299 hervorhebt, sowohl zu Sokrates wie zur Stoa in Gegensatz.
Empfohlene Zitierweise:
Philon: Über die Trunkenheit (De ebrietate) übersetzt von Maximilian Adler. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 49. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloEbrGermanAdler.djvu/049&oldid=- (Version vom 21.5.2018)