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‘Ungezeichnete’ – der, wie ich schon sagte, stoffliche Mächte als Gottheiten verehrt, ohne neben diesen ein wirkendes Prinzip anzunehmen – um ihn zu belehren, daß er nicht die rechte Überzeugung hat. 12 Denn die Welt ist entstanden und verdankt ihr Entstehen jedesfalls einem Schöpfer; die Idee[1] des Schöpfers selber ist der Prägestempel, durch den alles Existierende seine Gestalt erhalten hat. Deshalb ist auch bei dem der Entwicklung Unterworfenen die Form von Anfang an vollkommen da [548 M.] als Ausprägung und Abbild einer vollkommenen Idee. 13 Denn das zur Welt gekommene Lebewesen ist in seiner Quantität noch unvollkommen – das beweist das Wachstum in den einzelnen Altersstufen –, in seiner Qualität dagegen vollkommen; denn die Qualität ist unveränderlich, weil sie nach einer unveränderlichen, gänzlich unwandelbaren göttlichen Idee gebildet ist.[2]

[3] 14 Wie (der ‘Gezeichnete’) aber sieht, daß jener gegen das Lernen und gegen (den Glauben an) eine gesetzmäßige Herrschaft verschlossen ist, beschließt er mit Recht zu fliehen; denn er fürchtet, er werde, ohne irgend die Möglichkeit gehabt zu haben, dem andern zu nutzen, auch noch selbst Schaden leiden. Denn der Verkehr mit den Unverständigen ist schädlich, und oft bildet die Seele, ohne es zu wollen, die Abbilder des Wahnsinns dieser Menschen in sich nach;[3] und in der Tat sind Bildung und Unbildung, Fleiß und Trägheit von Natur einander feind. 15 Deshalb erheben auch die nach der Tugend strebenden Kräfte[4] laut schreiend ihre Stimme und geben zugleich die Ursachen des Hasses an: „Haben wir etwa noch Anteil oder Erbe im Hause unseres Vaters? Werden wir nicht von ihm als Fremde angesehen? Denn er hat uns verkauft und unser


  1. Im Originaltext λόγος. Über den Zusammenfluß des schöpfenden Logos mit der platonischen Idee bei Philo vgl. Falter, Beiträge zur Gesch. der Idee I 50.
  2. Der bei Philo oft begegnende Gedanke, daß die Welt und die Seele des Menschen nach dem göttlichen Logos gebildet sind (vgl. Über die Weltschöpfung § 25; Der Erbe d. Göttl. § 231; Ü. Abr. Wander. § 103; All. Erkl. III § 96 mit Anm.), verbindet sich hier mit einer Theorie des organischen Wachstums, die ihm aus der Stoa zugeflossen zu sein scheint; vgl. Arnim SVF II § 762.
  3. Vgl. All. Erkl. III § 16, Über die Einzelgesetze I § 106, Über die Unveränderlichkeit Gottes § 43 mit den Anmerkungen dazu.
  4. Lea und Rahel, die weiter unten (§ 17) „tugendliebende Seelen“ genannt werden (vgl. Der Erbe d. Göttl. § 43). Ihre allegorische Deutung in der Schrift Ü. d. Zusammenleben § 24ff. berührt sich eng mit dem Folgenden.
Empfohlene Zitierweise:
Philon: Über die Flucht und das Finden. H. & M. Marcus, Breslau 1938, Seite 57. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloFugGermanAdler.djvu/008&oldid=- (Version vom 21.5.2018)