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Seite:PhiloHerGermanCohn.djvu/12

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Philon: Der Erbe des Göttlichen (Quis rerum divinarum heres sit) übersetzt von Joseph Cohn

treffliche Mahnung. Denn sehr keck und geschwätzig ist die Unwissenheit, und für sie ist Schweigen das erste Heilmittel, und das zweite: aufmerksames Hören auf die, die etwas Anhörenswertes vortragen. 11 Doch glaube niemand, daß nur dieses mit „schweige und höre“ gemeint ist; es kann (uns) vielmehr noch eine andere Lehre geben. Es ermahnt nämlich, nicht nur mit der Zunge zu schweigen und mit den Ohren zu hören, sondern beides auch mit der Seele zu tun. 12 Denn viele, die jemand zu hören gekommen sind, kamen nicht mit ihren Gedanken; sie schweifen vielmehr draußen[1] herum und denken bei sich an tausenderlei Dinge, an verwandtschaftliche und fremde Beziehungen, an private und öffentliche Angelegenheiten, an die sie jetzt nicht denken sollten, indem sie alles sozusagen der Reihe nach zusammenzählen, und wegen der in ihrem Innern herrschenden großen Unruhe sind sie außerstande, dem Redner zuzuhören; denn[2] dieser spricht dann gleichsam nicht vor Menschen sondern vor seelenlosen Bildsäulen, die Ohren haben, aber kein Gehör. 13 Nur wenn der Geist gewillt ist, sich mit keiner einzigen von den Sachen, die teils von außen herantreten, teils im Innern aufbewahrt sind, zu beschäftigen, und sich ruhig und gelassen dem Redner zuwendet, schweigend nach Moses' Mahnung, wird er imstande sein, mit ganzer Aufmerksamkeit zuzuhören; anders vermöchte er es wohl nicht. [4] 14 Den Unwissenden ist also Schweigen zuträglich, aber für die Wißbegierigen und zumal Gottliebenden ist die Freimütigkeit ein sehr notwendiger Besitz. So heißt es ja in der Erzählung vom Auszug (2 Mos. 14, 14): „Der Herr wird für euch kämpfen, und ihr sollt stille sein“ und darauf folgt der Vers: „Und der Herr sprach [p. 475 M.] zu Moses: Was schreist[3] du zu mir?“ (Das lehrt,) daß diejenigen, die nichts Anhörenswertes zu sagen haben, schweigen und die, die auf die göttliche Liebe zur Weisheit vertrauen, reden sollen, und nicht etwa leise reden, sondern laut schreien, nicht etwa mit Mund und Zunge, wodurch, wie man sagt, die Luft kreisförmig bewegt und dem Ohre wahrnehmbar wird, sondern mit dem melodischen und lauttönenden Seelenorgan, das kein Sterblicher, nur der Unerschaffene und Unvergängliche hört.

Empfohlene Zitierweise:
Philon: Der Erbe des Göttlichen (Quis rerum divinarum heres sit) übersetzt von Joseph Cohn. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 225. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloHerGermanCohn.djvu/12&oldid=- (Version vom 23.2.2020)
  1. Vgl. § 82f.
  2. Begründung des § 11 ausgesprochenen Tadels solcher Zuhörer.
  3. Philo erblickt in der Frage: Was schreist du zu mir? keinen Tadel für Moses. Nach seiner Auffassung ist alles, was die Bibel von ihm, dem „Allweisen“, erzählt gut und nachahmenswert. Vgl. Targum Onkelos z. St., wo die Frage mit קבלית צלותך‎ „ich habe dein Gebet erhört“ umschrieben ist.