Seite:PhiloHerGermanCohn.djvu/13

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Philon: Der Erbe des Göttlichen (Quis rerum divinarum heres sit) übersetzt von Joseph Cohn

15 Denn das wohlgefügte und wohlklingende Lied geistiger Harmonie vermag nur der „geistige Musiker“[1] zu erfassen, aber keiner von den mit Sinnlichkeit Befleckten. Sobald das ganze Organ des Geistes in vollkommenen Akkorden[2] ertönt, fragt der Zuhörer sozusagen – in Wirklichkeit fragt er nicht, denn alles ist ja Gott bekannt –: „Warum schreist du zu mir?“ Behufs einer Bitte um Abwendung von Übeln oder zur Danksagung für den Besitz von Gütern oder zu beiden Zwecken?[3] [5] 16 So beredt erweist sich der Mann, der von schwacher Stimme und schwerer Zunge ohne Rednergabe zu sein schien[4] , daß er hier nicht nur redend, sondern sogar schreiend und an anderer Stelle mit unaufhörlichem, ununterbrochenem Redefluß auftritt. 17 Denn so heißt es (2 Mos. 19, 19): „Moses redete und Gott antwortete ihm mit einer Stimme.“ Für „redete“ steht (im griechischen Bibeltext) nicht ἐλάλησεν, d. i. (die Zeitform, die) eine vollendete Handlung (bezeichnet), sondern ἐλάλει, womit eine längere Zeitdauer ausgedrückt wird, und ebenso heißt es nicht: Gott „lehrte“ (ἐδίδαξεν) in vollendeter Zeitform, sondern ἀπεκρίνετο „er antwortete“ immerfort und anhaltend[5]. 18 Wo aber eine Antwort ist, da ist sicherlich eine Frage. Es fragt jeder nach dem, was er nicht versteht, um es zu lernen, und in der Erkenntnis, daß das nützlichste Mittel zur Wissenschaft ist: suchen, fragen, forschen, nichts zu wissen meinen, nichts mit Sicherheit erfaßt zu haben glauben.[6] 19 Weise nehmen daher Gott zu ihrem Leiter und Lehrer, und die noch Unvollendeten den Weisen. Darum sagen sie[7] auch (2 Mos. 20, 19): „Rede du mit uns, und nicht möge Gott zu uns reden, damit wir nicht sterben.“ Es zeigt aber der Weise eine so große Freimütigkeit, daß

Empfohlene Zitierweise:
Philon: Der Erbe des Göttlichen (Quis rerum divinarum heres sit) übersetzt von Joseph Cohn. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 226. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloHerGermanCohn.djvu/13&oldid=- (Version vom 23.2.2020)
  1. D. i. Gott als Schöpfer der Weltharmonie. Vgl. Über die Cherubim § 110 u. Anm.; Heinemann, Poseidonios' met. Schr. I 138, 9.
  2. Eigentlich: in der Konsonanz der Oktave oder Doppeloktave; s. Über d. Weltschöpfung § 48 Anm.
  3. Über diese drei Motive des Kultus vgl. Über die Einzelges. I § 195· u. Anm.
  4. S. § 4.
  5. Diese von Philo bezeugte Übersetzung entspricht vollkommen dem hebräischen Urtext, der hier ידבר‎ und יעננו‎ darbietet, also die Zeitform, mit der auch eine öfters oder gewohnheitsmäßig wiederholte Handlung ausgedrückt wird. Der Aorist ἀπεκρίνατο in unseren Septuaginta-Hss. und die L. Α. ἐλάλησεν im Vat. sind demnach spätere Verschlimmbesserungen.
  6. Vgl. Über die Pflanzung Noahs § 80 u. Anm.
  7. Die Israeliten zu Moses.