Zum Inhalt springen

Seite:PhiloHerGermanCohn.djvu/14

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Philon: Der Erbe des Göttlichen (Quis rerum divinarum heres sit) übersetzt von Joseph Cohn

er sich erkühnt, nicht nur zu reden und zu schreien, sondern sogar auch aus aufrichtiger Überzeugung und infolge edler Erregung Vorwürfe zu machen. 20 Denn das Wort: „Wenn du ihnen die Sünde verzeihst, so tue es; wenn aber nicht, so streiche mich aus deinem Buche, das du geschrieben hast“ (2 Mos. 32, 32) und dieses: „Habe ich denn dieses ganze Volk empfangen oder es geboren, daß du zu mir sagst: nimm es an deinen Busen, wie der Wärter den Säugling trägt?“ (4 Mos. 11, 12). Und dieses: „Woher habe ich Fleisch diesem ganzen Volke zu geben, daß sie über mich weinen? Sollen Schafe und Rinder geschlachtet oder alle Fische des Meeres gesammelt werden und wird es genügen?“ (Das. 11, 13. 22). Und dieses: „O Herr, warum [p. 476 M.] hast du diesem Volke Böses getan, und warum hast du mich geschickt? Seitdem ich zu Pharao gekommen bin, um in deinem Namen zu reden, hat er dem Volke Böses getan, und dein Volk hast du nicht errettet“ (2 Mos. 5, 22. 23) – diese Worte und ähnliche würde man sich fürchten, einem Statthalter[1] zu sagen; er aber erkühnte sich sogar vor Gott seine Meinung zu äußern. 21 Damit aber erreichte er den Gipfel – nicht des Mutes schlechthin, sondern – edlen Mutes, weil alle Weisen Freunde Gottes sind, und zumal nach Ansicht des göttlichen Gesetzgebers. Freimütigkeit ist aber mit Freundschaft verwandt; denn zu wem anders als zu seinem Freunde wird man freimütig sprechen? Treffend wird daher Moses in der h. Schrift „Freund“ genannt (2 Mos. 33, 11), so daß alle seine kühnen Äußerungen offenbar mehr aus Freundschaft als Anmaßung getan wurden. Denn Frechheit eignet dem Anmaßenden, edler Mut dem Freunde.

[6] 22 Beachte[2] aber weiter, daß Kühnheit mit Ehrfurcht verbunden ist. Denn die Frage: „Was wirst du mir geben?“ beweist Kühnheit, die Anrede aber „o Gebieter“ Ehrfurcht. Während er meistens dem (göttlichen) Urheber gegenüber zwei Anreden anzuwenden pflegt, nämlich bald θεός bald κύριος (Gott oder Herr), gebraucht er hier keine von beiden, sondern die Anrede δεσπότης (Gebieter); höchst ehrfürchtig[3] und sehr richtig! Allerdings sagt man, daß diese Wörter

Empfohlene Zitierweise:
Philon: Der Erbe des Göttlichen (Quis rerum divinarum heres sit) übersetzt von Joseph Cohn. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 227. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloHerGermanCohn.djvu/14&oldid=- (Version vom 23.2.2020)
  1. Wörtlich: einem von denen, die an Stelle oder im Range von Königen sind. Gemeint sind wohl die fast ganz unabhängigen römischen Statthalter. [Über das Recht des „Freimuts vor Gott“ vgl. auch T. Sanh. 105 a u. ö. I. H.]
  2. Damit nimmt Philo wieder die Erklärung des Textverses auf.
  3. Εὐλαβής (das, wie das vorhergehende εὐλάβεια im späteren Griechisch besonders gern von Gottesfurcht gebraucht wird) kann hier neben κυρίως zugleich auf die Sorgfalt (des Schriftstellers) in der Wahl des Ausdrucks gehen.