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Philon: Der Erbe des Göttlichen (Quis rerum divinarum heres sit) übersetzt von Joseph Cohn

daß es (für ihn) schwer erträglich sein würde, wenn er nicht auch erführe, auf welche Weise er zur Übernahme des Erbes gelangen könnte. Darum fragt er: „O Gebieter, in welcher Weise[1] werde ich erkennen, daß ich es erben werde“ (1 Mos. 15, 8)? 101 Man wird vielleicht sagen: das widerstreitet ja seinem Vertrauen! Des Zweiflers Art ist es zu fragen, doch der Vertrauensvolle fragt nicht weiter. Man muß daher sagen, daß er sowohl verlegen fragt als auch Vertrauen hat, allerdings nicht in bezug auf ein und dasselbe; weit gefehlt! Er vertraut nämlich fest darauf, daß er der Erbe der Weisheit sein werde; nur das fragt er, auf welche Art und Weise er es werden könnte; daß er es werden würde, das hat er auf Grund der göttlichen Verheißung als durchaus sicher angenommen. 102 Daher lobt der (göttliche) Lehrmeister seine Wißbegierde und beginnt seinen Unterricht mit einer elementaren Einleitung, in der als das Erste und Notwendigste geschrieben steht: „Nimm mir“ (1 Mos. 15, 9). Kurz ist der Ausdruck, aber groß seine Bedeutung, denn er besagt nicht wenig. 103 Zuerst sagt er: Kein Gut ist dein eigen; was du zu besitzen glaubst, hat vielmehr ein anderer gewährt. Daraus folgt, daß alle Besitztümer Gott, dem Geber, gehören, nicht dem bittenden und die Hände zum Nehmen ausstreckenden Geschöpfe.[2] 104 Zweitens: Wenn du nimmst, so nimm nicht für dich; betrachte das Gegebene als ein Darlehen oder anvertrautes Gut und gib es dem, der es anvertraut und geliehen hat, wieder zurück; so vergiltst du in richtiger und gebührender Weise einen früheren Liebesdienst[3] mit einem späteren, die vorausgegangene göttliche Wohltat mit deiner Dankbarkeit. [22] 105 Viele nämlich pflegen die ihnen anvertrauten heiligen Güter abzuleugnen, da sie fremdes Eigentum aus maßloser Habsucht wie ihr eignes gebrauchen. Du aber, mein Lieber, versuche mit aller Kraft, was du empfangen hast, nicht nur unversehrt und unverfälscht aufzubewahren, sondern auch jeglicher Sorgfalt zu würdigen, damit der, der es dir anvertraut hat, keinerlei Ursache habe, sich wegen der Aufbewahrung bei dir zu beklagen. 106 Anvertraut aber hat dir der Bildner alles Lebenden die Seele, die Sprache, die

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Philon: Der Erbe des Göttlichen (Quis rerum divinarum heres sit) übersetzt von Joseph Cohn. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 246. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloHerGermanCohn.djvu/33&oldid=- (Version vom 2.4.2020)
  1. Philo versteht, wie τρόπον καθ' ὃv und das folgende beweist, den Bibelvers: „auf welche Weise werde ich (wie ich erkennen werde) es erben“. Der folgende Einwand zeigt, daß er den wahren Sinn natürlich kennt.
  2. Vgl. Über die Unveränderlichkeit G. § 5f. Der Gedanke in 1 Chron. 29, 14.
  3. Das griechische χάρις bedeutet Gnade und Dank; ein passendes Wort, das beide Begriffe ausdrückt, haben wir im Deutschen nicht.