Zum Inhalt springen

Seite:PhiloOpifGermanCohn.djvu/55

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Philon: Ueber die Weltschöpfung (De opificio mundi) übersetzt von Joseph Cohn

als Herrscherin eingesetzt hatte, übergab er diesem führenden Teil die Sinne, dass er sich von ihnen zur Aufnahme von Farben, Tönen, Geschmack, Gerüchen und anderen Dingen bedienen lasse, da er durch sich allein ohne die sinnliche Wahrnehmung sie zu erfassen nicht imstande war. Natürlich muss die Nachbildung eines schönen Vorbildes auch schön sein. Die göttliche Vernunft aber ist besser als die Schönheit selbst, wie sie sich in der Natur zeigt, und nicht mit Schönheit geschmückt, sondern selbst, die Wahrheit zu sagen, ihr schönster Schmuck.

[49.] 140 So beschaffen an Leib und Seele scheint mir der erste Mensch gewesen zu sein; alle, die jetzt leben und vor uns gelebt haben, übertraf er bei weitem; denn wir stammen von Menschen ab, ihn aber hat Gott gebildet. Je vorzüglicher der Meister, desto besser ist doch das Werk. Gleichwie das Blühende stets besser ist als das Verblühte, sei es ein Lebewesen oder eine Pflanze oder eine Frucht oder irgend ein andres Ding in der Natur, so war auch offenbar der zuerst gebildete Mensch die höchste Blüte unseres ganzen Geschlechts, während die späteren nicht mehr zu gleicher Blüte gelangten, da die Nachkommen immer schwächere Formen [34 M.] und Kräfte bekommen[1]. 141 Dies habe ich auch bei den Werken der Malerei und Bildhauerkunst wahrgenommen; die Nachahmungen bleiben nämlich hinter den Urbildern zurück, und die nach diesen Nachahmungen gemalten und geformten Werke noch viel mehr, da sie vom Original weit entfernt sind. Eine ähnliche Veränderung zeigt auch der Magnetstein; denn der Eisenring, der ihn unmittelbar berührt, wird am stärksten festgehalten, der folgende aber, der diesen berührt, schon weniger; es hängt nun noch ein dritter am zweiten, ein vierter am dritten, ein fünfter am vierten u. s. w. in langer Reihe, alle von einer Kraft angezogen und zusammengehalten, aber nicht auf gleiche Weise; denn die Ringe, die weit entfernt vom Ausgangspunkte hängen, werden immer schlaffer, weil die Anziehungskraft nachlässt und sie nicht mehr mit gleicher Stärke festhalten

Empfohlene Zitierweise:
Philon: Ueber die Weltschöpfung (De opificio mundi) übersetzt von Joseph Cohn. H. & M. Marcus, Breslau 1909, Seite 77. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloOpifGermanCohn.djvu/55&oldid=- (Version vom 9.9.2019)
  1. Ein ähnlicher Gedanke findet sich bei dem Neuplatoniker Plotin; vgl. Zeller, Philosophie der Griechen III 2⁴,558.