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Philon: Ueber die Weltschöpfung (De opificio mundi) übersetzt von Joseph Cohn

kann. Aehnliches also scheint das Geschlecht der Menschen zu erfahren, da sie mit jeder Generation immer mattere Fähigkeiten und Eigenschaften sowohl des Körpers als der Seele erhalten.

142 Wir werden uns aber ganz wahrheitsgemäss ausdrücken, wenn wir jenen Urahn nicht bloss den ersten Menschen, sondern auch den einzigen Weltbürger nennen. Denn Haus und Stadt war ihm die Welt, da noch kein Gebäude von Menschenhand aus Baumaterial von Stein und Holz gezimmert war; in ihr wohnte er wie in der Heimat mit vollkommener Sicherheit und ohne Furcht, da er der Herrschaft über die Erdenwelt gewürdigt wurde und alle sterblichen Wesen sich vor ihm duckten und belehrt oder gezwungen waren, ihm als ihrem Gebieter zu gehorchen, und sündlos lebte er im frohen Genusse eines kampflosen Friedens. [50.] 143 Da aber jeder wohlgeordnete Staat eine Verfassung hat, so musste der Weltbürger natürlich nach derselben Verfassung leben wie die ganze Welt. Diese Verfassung ist das vernünftige Naturgesetz, das man besser θεσμός (göttliche Satzung) nennt, da es göttliches Gesetz ist, nach welchem einem jeden das ihm Gebührende und Zukommende zuteil wird[1]. Dieser Staat und diese Staatsverfassung musste aber schon vor dem Menschen Bürger haben, die mit Recht Grossbürger genannt werden könnten, da sie dazu bestimmt waren, den grössten Umkreis zu bewohnen, und im grössten und vollkommensten Staatswesen als Bürger eingetragen waren. 144 Wer anders aber sollte das sein als jene vernünftigen und göttlichen Wesen, die teils unkörperlich und rein geistig teils – wie die Gestirne – nicht ohne Körper sind? Im Verkehr und im Zusammenleben mit diesen verbrachte er natürlich seine Zeit in ungetrübtem Glücke; ganz nahe verwandt mit dem Weltenlenker, da doch der göttliche Hauch voll in ihn geflossen

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Philon: Ueber die Weltschöpfung (De opificio mundi) übersetzt von Joseph Cohn. H. & M. Marcus, Breslau 1909, Seite 78. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloOpifGermanCohn.djvu/56&oldid=- (Version vom 9.9.2019)
  1. Philo schreibt dem ersten Menschen (vor dem Sündenfall) die Eigenschaften des stoischen Ideals des Weisen zu; er ist nach ihm das Prototyp des Kosmopoliten, der in vollster Harmonie mit dem ὀρθὸς λόγος φύσεως (dem Welt- oder Naturgesetz) lebt und bestrebt ist, ganz nach dem Willen des Weltenlenkers zu handeln, um so das Ziel alles sittlichen Strebens, die Annäherung an Gott, zu erreichen. Vgl. Diog. La. VII 88. Mark Aurel V 27.