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Philon: Über die Träume (De somnis) übersetzt von Maximilian Adler

pflegen daher diese lächerlichen Menschen folgendes zu sagen: Wir sind die Führer, wir die Machthaber; auf uns ruht alles; wer, wenn nicht wir, sind die Urheber des Guten und seines Gegenteils? Wem, wenn nicht uns, kommt es wahrhaftiglich zu, Gutes und Böses zu bewirken? Es schwatzen aber umsonst die Leute, die da sagen, alles sei abhängig von einer unsichtbaren Kraft, von der sie glauben, daß sie regiere über alle menschlichen und göttlichen Angelegenheiten in der Welt. 292 Wenn sie nach dergleichen Prahlereien wie von einem Rausche wieder nüchtern geworden und zu sich gekommen sind und ihnen der Zustand des Wahnsinns, in dem sie sich befanden, zum Bewußtsein gekommen ist, sie sich schämen und sich selber schelten über das, wozu sie durch ihre unüberlegte Meinung zu sündigen sich verführen ließen, dann werden sie, indem sie sich der durch keine Schmeichelei zu gewinnenden und unbestechlichen Beraterin, der Reue, bedienen, wenn sie sich die gnädige Macht des Seienden durch heilige Palinodien[1] statt der profanen geneigt gemacht haben, völlige Straffreiheit finden. 293 Wenn sie aber, gänzlich zügellos und unbändig geworden, dahinstürmen, als ob sie unabhängig, frei und die Führer anderer wären, werden sie mit unerbittlicher und unbarmherziger Notwendigkeit ihre eigene Nichtigkeit in allen kleinen und großen Dingen zu spüren bekommen. 294 Denn der Lenker, der wie einen geflügelten Wagen[2] diese unsere [698 M.] Welt bestiegen hat, wird, nachdem er den Zaum angelegt, den schlaffen Strang der Zügel mit Gewalt nach hinten gespannt und das Zaumzeug angezogen hat, durch Peitsche und Stachel sie an seine herrscherliche Macht erinnern, die sie vergaßen wegen der Güte und Milde des Herrschers wie die schlechten Sklaven. 295 Denn wenn sie die Nachsicht der Herren in Anarchie verwandeln, täuschen sie die Herrenlosigkeit vor, bis der Besitzer ihrer wilden und heftigen Krankheit, dadurch daß er statt Heilmittel Strafen anwendet, ein Halt gebietet. 296 Deshalb heißt es: „Eine Seele, die schwören will[3] und den Mund öffnet, mit ihren Lippen Böses zu tun oder Gutes zu tun, sie soll dann später ihre Sünde bekennen“ (3 Mos. 5, 4).


  1. Die Palinodie ist ein Gesang, in dem etwas, was früher getadelt wurde, jetzt auf Grund einer Sinnesänderung widerrufen und gelobt wird; vgl. Plato, Phädrus 243 Bff., und 257 A und Philo Über die Nachkommen § 179.
  2. Vgl. Plato, Phädrus 246 Aff.
  3. Nach Nestles Korrektur des Textes Philologus 61 (1902), S. 211f.: ψυχὴ ἣ ἂν ὀμόσῃ.
Empfohlene Zitierweise:
Philon: Über die Träume (De somnis) übersetzt von Maximilian Adler. H. & M. Marcus, Breslau 1938, Seite 276. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloSomnGermanAdler.djvu/114&oldid=- (Version vom 7.1.2019)