Philon: Über die Träume (De somnis) übersetzt von Maximilian Adler | |
|
leicht, sondern mit vielen Anstrengungen und mit Mühe gefunden. Und das kann man nicht nur an solchen Wissenschaften beobachten, die große und unendlich viele Gegenstände enthalten, sondern auch an den einfachsten. 7 Nimm welche Kunstfertigkeit du willst, nur nicht gleich die vornehmste, sondern die unscheinbarste von allen, die nicht sogleich ein freier, in der Stadt aufgewachsener Mann freiwillig ausüben möchte, auf dem Lande aber ein Knecht ausübt, nur widerwillig, im Kampfe mit einem mürrischen und eigensinnigen Herrn, der ihn dazu zwingt, vieles zu tun, was er nicht will. 8 Man wird finden, daß die Aufgabe nicht einfach, sondern kompliziert ist, nicht mit Leichtigkeit erfaßbar[1], sondern schwer zu finden, schwer zu bewältigen, fern von Trägheit, Nachlässigkeit und Leichtsinn, aber voller Fleiß und Wetteifer, Schweiß und Sorgen. Deshalb sagen auch die, die danach graben, sie hätten kein Wasser in diesem Brunnen gefunden (1 Mos. 26, 32), weil die Endergebnisse der Wissenschaften nicht nur schwer zu finden, sondern überhaupt unauffindbar zu sein pflegen. 9 Darum wird in der Grammatik und in der Geometrie einer immer gelehrter als der andere, weil man dem Fortschritt[2] und der Vermehrung unmöglich Grenzen setzen kann; denn der Rest, der auf uns wartet und lauert, ist immer noch größer als das, was zur Kenntnis gekommen ist, so daß der, der glaubt, an die Grenzen der Wissenschaft zu rühren, von einem anderen Kenner für einen Halbgebildeten gehalten wird, von der richtenden Wahrheit aber für einen, der eben erst anzufangen scheint. 10 „Denn kurz ist das Leben“, heißt es, „die Kunst aber lang“;[3] ihre Größe begreift am besten, wer wahrhaft in sie eindringt und sie wie einen Brunnen [622 M.] ausgräbt. Deshalb soll auch ein schon ergrauter und sehr alter Mann, als er starb, geweint haben, nicht aus Feigheit wegen Angst vor dem Tode, sondern aus Sehnsucht nach der Bildung, weil er in sie jetzt gerade hineinkomme, wo er so spät aus dem Leben herausgehe.[4] 11 Denn für die Wissenschaft blüht die Seele, wenn die Blüte des Körpers durch die Länge der Zeit welk wird.[5] Es ist schlimm, dahingerafft zu werden, bevor man sich durch die genauere Erkenntnis der Dinge entwickelt hat und herangereift ist.
Philon: Über die Träume (De somnis) übersetzt von Maximilian Adler. H. & M. Marcus, Breslau 1938, Seite 175. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloSomnGermanAdler.djvu/13&oldid=- (Version vom 3.6.2018)