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Philon: Über die Träume (De somnis) übersetzt von Maximilian Adler

Isaak – er bezeichnet ihn nämlich als einen der Milch Entwöhnten (1 Mos. 21, 8), der es nicht für richtig hält, überhaupt weiche und milchige, Säuglings- und Kinderspeisen zu brauchen, sondern kräftige und für Erwachsene bestimmte, da er ja vom Kindesalter an gut zum Starkwerden veranlagt ist und zunimmt und dauernd heranwächst –, als das der weichenden und leicht nachgebenden den Joseph. 11 Denn dieser vernachlässigt zwar die seelischen Tugenden nicht, sorgt aber auch für das Wohlbefinden des Körpers [661 M.] und strebt auch nach Reichtum an äußeren Gütern.[1] Er wird aber mit Recht von einer Seite nach der andern gezogen, da er sich viele Lebensziele gesetzt hat, und von jedem nach einer andern Richtung getrieben, schwankt und wankt er, ohne sich fest hinstellen zu können. 12 Die Begierden können nämlich nicht wie verbündete Staaten in Frieden leben, sondern sie führen gegeneinander Krieg und machen Gegenangriffe, so daß sie der Reihe nach bald die Herrschaft gewinnen, bald unterliegen; denn manchmal ist der nach Reichtum und Ruhm hinstrebende Trieb gewaltig und besiegt die Sorgen um Körper und Seele, dann wird er wieder mit Gewalt bezwungen und von beiden oder dem stärkeren[2]besiegt. 13 Ebenso überschwemmen auch sämtliche körperlichen Lüste, wenn sie zum Durchbruch kamen, nacheinander alles Geistige und machen es unsichtbar. Dann aber, bald darnach, schwächt die Weisheit, wenn sie mit heftigem und plötzlichem Winde entgegenweht, den Strom der Lüste und besänftigt überhaupt alle die durch die Sinne entstandenen Bestrebungen und ehrgeizigen Absichten. 14 Ein solcher Kreislauf ewigen Krieges wirbelt um die vielgestaltige Seele. Wenn nämlich ein Feind niedergeworfen ist, wächst ein anderer, in jeder Beziehung stärkerer, heran wie bei der vielköpfigen Hydra; denn auch bei ihr, heißt es, sproßte an der Stelle des abgehauenen Kopfes ein anderer hervor, womit die vielgestaltige und vielerzeugende, schwer zu besiegende Gattung der unsterblichen Schlechtigkeit gemeint ist. 15 Wähle also niemals etwas einzelnes aus und teile es dem Joseph zu, sondern bedenke, daß er das Abbild einer vielfachen und gemischten Lebensauffassung ist. Durch ihn nämlich tritt in die Erscheinung sowohl die zur Vernunft gehörende Selbstbeherrschung, die männlichen Geschlechts ist, 16 geprägt nach seinem Vater Jakob,


  1. Zu dieser Dreiteilung der Güter vgl. Über die Nachstellungen § 7 Anm. 2.
  2. Nach Colsons Konjektur.
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Philon: Über die Träume (De somnis) übersetzt von Maximilian Adler. H. & M. Marcus, Breslau 1938, Seite 227. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloSomnGermanAdler.djvu/65&oldid=- (Version vom 7.10.2018)