Philon: Über die Träume (De somnis) übersetzt von Maximilian Adler | |
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[21] 145 Wie nun unerwartete und unberechenbare Schicksalsschläge dies niederzuschmettern pflegen, so stürzen sie auch die seelischen Kräfte in ihr Gegenteil und biegen sie um, wenn sie dazu imstande sind, und zwingen sie zur Umkehrung. Denn wer blieb, wenn er in den Ringkampf des Lebens eingetreten ist, ohne Fehltritt? Wer wurde nicht zu Fall gebracht? Glücklich der, dem es nicht oft geschah! 146 Wem lauerte nicht die Schicksalsgöttin auf, Atem schöpfend und Kraft sammelnd, damit sie, wenn sie mit ihm handgemein geworden ist, ihn sofort hinwegraffe, ehe der Gegner sich zum Kampf gerüstet hat? 147 Kennen wir nicht sogar Leute, die vom Kindes- ins Greisenalter gelangten und keinerlei Beunruhigung zu spüren bekamen, sei es wegen der Wohlgeratenheit ihrer Natur oder wegen der Fürsorge ihrer Ernährer und Erzieher oder wegen beider Umstände, Leute, die von dem tiefen innerlichen Frieden erfüllt waren, der in Wahrheit Friede ist, ein Vorbild des Friedens unter den Staaten, und die deshalb für glücklich gehalten wurden, weil sie den von den Leidenschaften angefachten Bürgerkrieg, der der schwerste der Kriege ist, nicht einmal im Traume kennen lernten, und die dann doch an ihrem Lebensabend selbst aus der Bahn geschlagen wurden und scheiterten entweder durch die Offenheit[1] ihrer Zunge oder durch die Unersättlichkeit ihres Magens oder durch die unbeherrschte Geilheit ihres Unterleibs? 148 Denn die einen erstrebten das jugendliche, ehrlose, verfemte und häßliche Leben der Lüstlinge „auf der Schwelle des Alters“,[2] die andern das durchtriebene und ränkevolle und leichtsinnige, beginnend mit der Vielgeschäftigkeit, zu einer Zeit, da es sich geziemt hätte, sie aufzugeben, auch wenn sie alt gewesen wäre. 149 Deshalb muß man Gott anflehen und inbrünstig bitten, daß er an unserem dem Verhängnis unterworfenen Geschlecht nicht vorübergehe, sondern gestatte, daß sein rettendes Mitleid ewig dableibe; denn es ist schlimm, wenn die, die den ungetrübten Frieden gekostet haben, daran gehindert werden, sich (an ihm) zu sättigen. [22] 150 Doch sei wohlgemut! Dieser Hunger ist ein leichteres Übel als der Durst, da er ja Verlangen und Sehnsucht zu Tröstern hat. Wenn man aber aus einer andern Quelle, deren Naß schmutzig und ungesund ist, um des Verlangens nach einem Trunke willen sich sättigen
Philon: Über die Träume (De somnis) übersetzt von Maximilian Adler. H. & M. Marcus, Breslau 1938, Seite 250. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloSomnGermanAdler.djvu/88&oldid=- (Version vom 7.1.2019)