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Philon: Ueber die Tugenden (De virtutibus) übersetzt von Leopold Cohn

Ueber die Menschenliebe.

51 (1.) Der Frömmigkeit[1] ganz nahe verwandt und geradezu Zwillingsschwester von ihr ist die Menschenliebe, die wir nunmehr betrachten müssen. Diese schätzte der prophetische Gesetzgeber wie kaum ein anderer, denn er wusste, dass sie wie ein gebahnter Weg zur Frömmigkeit führt; deshalb suchte er alle seine Untergebenen zur Betätigung des Gemeinsinns anzuleiten und zu ermuntern und schilderte als herrliches Beispiel wie ein Mustergemälde sein eigenes Leben[2]. 52 Alles das nun, was er von frühester Jugend bis ins Greisenalter in zartester Fürsorge für jeden einzelnen und für alle Menschen insgesamt getan hat, ist früher in zwei Büchern dargelegt worden, [p. 384 M.] die ich unter dem Titel „über das Leben des Moses“ geschrieben habe. Eine oder zwei Handlungen aber, die er am Ende seines Lebens vollbracht hat, verdienen noch erwähnt zu werden; denn sie sind Proben der beständigen, fortwährend wirksamen und unerschütterlichen Tugendhaftigkeit, die er seiner mit göttlichem Gepräge geformten Seele als Siegel aufgedrückt hat. 53 Als nämlich das Ende der vorbestimmten Zeit sterblichen Lebens für ihn herannahte und deutliche Gottessprüche ihn erkennen liessen, dass er von hinnen scheiden müsse, ahmte er nicht das Beispiel der anderen Herrscher oder Privatpersonen nach, die nur ein Streben und einen Wunsch haben, ihre Kinder als Erben zu hinterlassen, sondern, obwohl er Vater von zwei Söhnen war, liess er sich nicht von der Verwandtenliebe und dem Gefühl für das eigene Blut überwältigen und hinterliess keinem von beiden die Führerschaft. Und wenn er schon der Befähigung der eigenen Kinder nicht traute, so fehlte es ihm doch nicht an wackeren Bruderssöhnen, die als Auszeichnung für ihre Tugend das höchste Priesteramt erhalten hatten. 54 Aber vielleicht hielt er es nicht für recht sie vom heiligen Dienst abzuziehen, oder er bedachte ganz richtig, dass dieselben Männer unmöglich


  1. Zwischen dem ersten Abschnitt über die Tapferkeit und diesem über die Menschenliebe ist nach diesen Eingangsworten ein Abschnitt über die Frömmigkeit wahrscheinlich verloren gegangen: vgl. die Vorbemerkungen S. 315.
  2. Vgl. Leben Mosis I § 158.
Empfohlene Zitierweise:
Philon: Ueber die Tugenden (De virtutibus) übersetzt von Leopold Cohn. Breslau: H. & M. Marcus, 1910, Seite 332. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhilonVirtGermanCohn.djvu/020&oldid=- (Version vom 12.11.2017)